: Die Mörder sind unter uns
Wegschauen geht nicht: 25 Prozent mehr Neonazis haben die Verfassungsschützer im vergangenen Jahr gezählt. Für die taz nord beobachtet Andreas Speit den rechten Rand. Kontinuierlich.
Gerhard Sommer aus Hamburg und Hans Friedrich aus Göttingen: Die beiden Herren haben nicht nur gemein, als ehemalige Angehörige der Waffen-SS an Massenerschießungen von Zivilisten beteiligt gewesen zu sein. Beide dürfen vermutlich auch für ihre Taten nicht von einem deutschen Gericht belangt werden. „Ob überhaupt eine Anklage erhoben wird, ist ungewiss“, erklären unisono die ermittelnden Staatsanwaltschaften. So verbringen sie wohl auch weiterhin ihren Lebensabend ungestört.
Am 22. Juni verurteilte zwar das Militärtribunal in La Spezia den früheren SS-Unterscharführer Sommer wegen der Ermordung von 560 Menschen in Sant’Anna zu lebenslanger Haft. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Sommer als Kommandeur der 16. SS-Panzerdivision „Reichsführer SS“ am 12. August 1944 das Massaker an den Bewohnern des toskanischen Bergdorfs, unter ihnen 120 Kinder, mitverantwortete (taz berichtete).
Der Verurteilte verbrachte den Tag des Urteils in seinem idyllischen Alten- und Pflegeheim. Ab 1.700 Euro aufwärts im Monat kostet den rüstigen Rentner und seine Frau das Domizil im Grünen. Das Urteil aus La Spezia sei doch sehr „aus der Hüfte geschossen“, hieß es gleich aus Kreisen der Staatsanwaltschaft Stuttgart, die seit 2002 im „Fall Sant’Anna“ gegen vierzehn Verdächtige ermittelt. „Das Urteil hat für uns juristisch keine Bedeutung“, erklärt Staatsanwalt Häusler nun etwas vorsichtiger. Denn anders als nach italienischer Militärrechtsprechung, erläutert Häusler, muss nach deutschem Strafrecht den „Tätern die einzelne Tat nachgewiesen werden“. Nach über 60 Jahren scheint für Häusler dieser Nachweis kaum möglich.
Auch der Göttinger Staatsanwalt Heimgärtner betont, nur eine „konkrete Beschuldigung führt zur Anklageerhebung“. Erst ein BBC-Interview mit Friedrich führte im Februar 2005 zu den Ermittlungen. Der frühere SS-Unterführer erzählte, dass er auf dem Gebiet der heutigen Ukraine an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung beteiligt war. Die 1. SS-Infanteriebrigade, der er angehörte, war eine der ersten Einheiten, die alleine mit der Ermordung jüdischer Frauen und Kinder beauftragt war. Am 4. August 1941 besetzte das 1. Bataillon der Brigade Hrycow. In den nächsten Stunden ermordeten sie 268 jüdische Menschen. Alleine im Winter 1942 tötete die SS-Infanteriebrigade 387.000 „Juden und Partisanen“. „Mitleid mit den Opfern? – Nein“, antwortete Friedrich im Interview. „Dazu ist mein Hass den Juden gegenüber zu groß.“ Mittlerweile streite der Rentner die Aussagen ab, sagt Heimgärtner, und: „Er hat auch nicht gesagt selbst geschossen zu haben.“ Dem Rentner, erklärt er weiter, haben sie jetzt einen Pflichtverteidiger angeboten, um ihn vernehmen zu können. Falls dennoch gegen die beiden Herren Anklage erhoben wird, dürfte sie jedoch die Rechtsprechung schützen. Mit einem der ersten Gesetze ermöglichte der Bundestag 1949 bereits die Straffreiheit von NS-Tätern bei „minderschweren Fällen“. Eine Serie von Entscheidungen sorgte in den 50er-Jahren für die weitere Nichtverfolgung der Täter. 1960 verjährte Totschlag und 1968 alle Beihilfeverbrechen, ohne das die Politik eingriff. Erst 1979 verhinderte der Bundestag – im dritten Anlauf –, dass Mord nicht verjährt. Allerdings muss das Gericht dem Angeklagten Heimtücke oder niedere Beweggründe nachweisen. Mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) im Sommers 2004 ist jedoch auch solche Verurteilungen erschwert. Das BGH hob die Verurteilung des SS-Obersturmbahnführers Friedrich Engel wegen der Ermordung von 59 italienischen Zivilisten auf, da das Hamburger Landgericht keine ausreichenden „Merkmale der Grausamkeit“ aufzeigte.