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Archiv-Artikel

Wie konservativ ist die Union?

Der Begriff „konservativ“ suggeriert heutzutage eine besondere Reflexionstiefe. Doch der Anschluss an einen zeitgemäßen Konservativismus ist CDU und CSU misslungen

Es ist erstaunlich, wie wenig Wert die Unionsparteien auf ein erkennbares geistiges Profil legen Allen schwarz-grünen Visionen zum Trotz: Die Summe der Gemeinsamkeiten ist sehr gering

Die gegenwärtige Situation der Union ist dankbar. Je weniger sie sich bewegt, desto eindrucksvoller entwickeln sich ihre Umfragewerte. Dabei kommt sie erstaunlich gut ohne eine zündende politische Idee aus. Es scheint zu reichen, dass die Deutschen von Rot-Grün die Nase voll haben. Nach einer beeindruckender Reihe von Kursschwenks, gescheiterter Reformen und technischer Fehler vermuten die meisten in der CDU/CSU wenigstens ein alternatives Führungspersonal, dem zumindest operativ mehr zuzutrauen ist.

Was die Union vorhat, will sie der Öffentlichkeit am 11. Juli mit ihrem „Regierungsprogramm“ offenbaren. Ein Quantensprung in Sachen inhaltlicher Aufklärung steht da gewiss nicht zu erwarten. Mehr als den politischen Gegner hat die Parteiführung wahrscheinlich ohnehin die Auseinandersetzung der verschiedenen Parteiflügel zu befürchten – es geht um Posten und inhaltliche Kursbestimmungen. Christlich-sozial orientiert gibt sich der rheinland-pfälzische Spitzenkandidat Christoph Böhr, der mit besorgtem Blick auf die nächste Landtagswahl schon vor dem wohlfahrtsstaatlichen Kahlschlag warnt, während Friedrich Merz als wirtschaftsliberaler Joker auf Einwechslung wartet. Die auffällige taktische Zurückhaltung der Stars unter den Landesfürsten Wulff, Koch und Stoiber lässt erahnen, dass die letzte Messe hier noch lange nicht gesungen ist.

Was können die eilig zusammengerufenen Schriftführer Kauder, Röttgen, Huber und Söder in ihrem Entwurf für eine Partei bewerkstelligen, die nie für ihren programmatischen Anspruch bekannt war? Nur kurzzeitig sorgte der Modernisierer Helmut Kohl Mitte der Siebzigerjahre in der Union für Theoriedebatten und entdeckt mit seinem zweiten Generalsekretär Heiner Geißler die „neue soziale Frage“. Aber auch Kohl sah bald ein, dass das Konservative kaum im Geist des social engineering aufgeht, und versuchte in der „geistig-moralischen Wende“ einem konservativen Grundzug zur Geltung zu verhelfen. Doch der Anschluss an einen intellektuellen Konservatismus misslang gründlich. In Zeiten der Friedensbewegung und der atomaren Endzeitpanik der 1980er-Jahre blieb das Wertkonservative Beiwerk, weil man weder Mut noch Kraft fand, dies inhaltlich zur Geltung zu bringen.

Dabei gab es schon damals einige Intellektuelle, die sich um einen zeitgemäßen Konservatismus bemühten. Hermann Lübbe, Odo Marquard, Ernst-Wolfgang Böckenförde und Robert Spaemann – allesamt Schüler des heute weithin vergessenen, aber einflussreichen Münsteraner Philosophen Joachim Ritter – versuchten zu begründen, warum die liberale Ordnung des Grundgesetzes erhaltenswert ist.

Odo Marquard nannte das einen „Modernitätstraditionalismus zugunsten der liberalen Demokratie“, dessen Ziel es war, das Vertrauen in die politischen Institutionen und in die pragmatische Vernunft der dort getroffenen Entscheidungen zu stärken. In Commonsense, zivilreligiösen Werten und bürgerlichen Lebensformen erkannten diese Liberalkonservativen das Lebenselixier der politischen Kultur. Sie wussten, lange bevor die Linke den Verfassungspatriotismus entdeckte, dass ein Staat nicht nur von seiner sozialen und ökonomischen Steuerungsfähigkeit lebt, sondern das Engagement seiner Bürger braucht. Man musste sich nicht erst mit dem Kommunitarismus und der Modeformel von der Zivilgesellschaft auseinander setzen, um zu erkennen, dass jedes Gemeinwesen auf die tätige Mithilfe seiner Bürger angewiesen ist, ja sie ermöglichen muss.

Auch heute sind es solchermaßen hergeleitete „liberalkonservative“ Werte, die dem Reform-Klein-Klein einen Sinn unterlegen könnten, und es ist erstaunlich, dass die Union so wenig Wert darauf legt, ein erkennbares geistiges Profil zu entwickeln. Dabei ist es nicht uninteressant, dass eine ehemalige Diffamierungsvokabel jeden negativen Beigeschmack verloren zu haben scheint: Der Begriff „konservativ“ suggeriert heute sogar eine besondere Reflexionstiefe. Sie wird von den machtpragmatischen Unionisten vor allem dann eingefordert, wenn zum Nachdenken die Zeit da ist – nämlich in der Opposition. Schon in den Jahren der sozialliberalen Koalition registrierte man den Aufschwung eines neuen Konservatismus; man sprach von einer neokonservativen „Tendenzwende“. Und auch in letzter Zeit mühen sich ganz unterschiedliche Spindoctors um ein konservatives Comeback.

Mit schöner Regelmäßigkeit taucht der Intellektuellentraum einer schwarz-grünen Liaison auf. Was in der Bonner Pizza-Connection der 1990er-Jahre ein Zukunftsversprechen schien, besitzt für manche Vordenker der Berliner Republik wie den Historiker Paul Nolte nach wie vor Attraktivität. Ganz im Lichte einer neuen Bürgerlichkeit, auch der weithin diagnostizierten Verbürgerlichung der Grünen, setzen die Sympathisanten eines solchen Projekts auf konservative Wertefundierung und zivilgesellschaftliches Engagement. Die Hauptfeinde solcher Beschwörungsformeln sind die Traditionalisten eines sozialdemokratischen Etatismus und die neoliberalen Advokaten der „Ego-Gesellschaft“ in der Westerwelle-FDP. Zwar verlangt man selbst neue liberale Eigenverantwortung, aber ein bisschen republikanischer Patriotismus und Gemeinschaftswärme sollen schon sein.

Schlecht für solche schwarz-grünen Visionen sieht es in der politischen Realität aus, denn auch beim besten Willen lässt sich wenig Übereinstimmung zwischen Merkel und Fischer, zwischen Koch und Künast, zwischen Stoiber und Trittin erkennen. Was für die einen die Rückkehr zur Familie bedeutet, heißt für die anderen die rechtliche Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften und ihren Patchwork- Arrangements. Und ginge man die gegensätzlichen Konzeptionen in der Sicherheits-, Wirtschafts-, Außen-, Landwirtschafts- und Energiepolitik einmal systematisch durch, ganz abgesehen von den habituell gepflegten persönlichen Animositäten, dann muss man jede Annäherung auf absehbare Zeit für pure Illusion halten. Jenseits der geteilten Vorbehalte gegenüber der Stammzellenforschung (die kaum die Wahl entscheiden werden) lässt sich kaum Gemeinsames finden.

Vermutlich fehlt in diesem kurzen und heißen Wahlkampfsommer die Zeit, um sich über Werthaltungen zu verständigen. Verordnete Debatten (Patriotismus, „Leitkultur“) gewinnen ohnehin selten an Fahrt. Solche Auseinandersetzungen können nur in einer Gesellschaft stattfinden, die sich von ihrer Staatsgläubigkeit verabschiedet und die ihre eigenen kreativen Potenziale zu nutzen versteht. Ob es allerdings die Union schafft, eine Selbstbeschränkung des Staates mit einer Erweckung neuen Bürgersinns zu koppeln? Dazu bedürfte es eines Profils, das die CDU/CSU jenseits von Steuerreform- und Haushaltsplänen kenntlich machen müsste. So besteht der Verdacht, dass die gern beiläufig mitgeführten Konservatismusformeln schon lang jede inhaltliche Festlegung vernebeln. JENS HACKE