: Vom Entdecker als kleinem Arschloch
THEATER Spektakuläre Kulisse und tolle Einfälle: Wo 1911 Wilhelm Filchner mit seiner Polarexpedition startete, in Bremerhaven gleich am Wasser, inszeniert die Truppe Das letzte Kleinod seine Geschichte
Wenn die Langlütjen-Inseln in der Wesermündung erstmals seit ihrer künstlichen Aufschüttung im 19. Jahrhundert für Menschen wie dich und mich zugänglich sind oder sich die Tore des Ritterguts Altluneberg im Kreis Cuxhaven nach Jahrzehnten wieder öffnen, steckt nicht selten Jens-Erwin Siemssen und seine Truppe Das letzte Kleinod dahinter. Dann gibt es dort „site specific theatre“: Theater, das von den Orten erzählt, an denen es spielt.
Siemssen ist auch jetzt dabei, wenn es, direkt an der Bremerhavener Hafenkante, um die zweite deutsche Polarexpedition geht. Die startete im Mai 1911 unter der Leitung von Wilhelm Filchner genau von dort. Das Vorhaben, eine Passage durchs Eis zu finden, misslang. Auch sonst verlief nicht alles nach Plan: Die Überwinterungsstation überlebte die Flut nicht, das Schiff wurde neun Monate lang vom Packeis eingeschlossen, der Kapitän starb während der Reise, es kam zu Mobbing und Meuterei.
Siemssen erarbeitete nicht nur „Die Filchner-Barriere“ nach Tagebüchern und Interviews, sondern führt nun auch Regie. Gespielt wird größtenteils auf der Plattform eines Eisenbahnanhängers, und die Kulisse ist beeindruckend: Schiffe am Horizont, rechts liegt ein großer Frachter, entlang des Kais stehen Ladekräne.
Alles beginnt mit einem Jugendfoto Filchners: Ein junger Mann und eine junge Frau suchen danach, das Patenkind vom alten Filchner und seine Frau. Mit großem Bahnhof wird die Expedition verabschiedet: Von rechts fährt eine Kapelle heran, das Schiff wird mit Paletten beladen, die im Folgenden als Universalrequisite dienen: als Tische, Stühle und Weihnachtsbaum, als Proviant, Packeis – und Pinguine.
Den Ort, seine Besonderheiten nutzt das Ensemble ausgiebig. Sogar ein Kran wird bestiegen, später fährt er die Kaje entlang bis über die Köpfe des Publikums. Was natürlich schon reizvoll ist – aber auch noch keine gute Geschichte.
Aber auch die liefert „Die Filchner-Barriere“: Die Enge an Bord, unvorhergesehene Katastrophen und vorhersehbare Schuldzuweisungen bieten dramatisches Potenzial. Siemssen zeigt das beinahe fragmentarisch und mit einigen tollen Einfällen: einem Weihnachtsbaum aus Paletten, schräg an schräg aufeinandergestapelt. Oder den erwähnten Pinguinen: zwei watschelnde, gackernde Schauspieler mit Paletten vor dem Bauch – was man sofort versteht.
Diese Komik stützt den moralischen Kern des Stücks: Auch große Helden leiden manchmal an Hämorrhoiden. Und nicht selten sind sie kleine Arschlöcher mit großem Wahn. ANDREAS SCHNELL
weitere Aufführungen: heute, Fr und Sa, jeweils 21.45 Uhr, Bremerhaven, Columbus-Kaje