berliner szenen: Nicht mehr in Hotels aufwachen
Lisa blinzelte und stieg entschieden aufs Gas. Sie war eine moderne Frau, die im Auto Klassikradio hörte, Schubert oder Schumann, Händel oder Haydn, Musik von der Nachtseite, passend zur Automatik des Leihwagens, den sie „über die App“ geliehen hatte. Sie fühle sich wie ein leerer Raum, in dem bald einmal ihre Tochter zu finden sein sollte, wie sie erklärte, ein aufgeräumter, totenstiller Raum noch ohne Echo aus der Zukunft. Sie wolle nicht länger in Hotelzimmern wohnen, sondern von Babygeschrei geweckt werden, sagte sie, während ich erst gedankenleer, dann klassikfeindlich aus dem Fenster starrte, hinaus auf tote Bäume am Straßenrand, ich hasse klassische Musik, Überbleibsel einer Kindheit in Schlagerhaushalten, um es verkürzt zu sagen.
Babygeschrei war ihr Ziel, Hotelzimmer war ihr Leben. Sie war selten zu Hause, sie war oft unterwegs. Es gab Tage, da hörten sich die Stimmen über das Autotelefon wie Aufzeichnungen eines Babyphones an, sagte sie lachend. Es gab Tage, da ließ sie in den Videokonferenzen das Licht aus. Schade, dachte ich, schade um ihr Gesicht, das ich im Profil betrachtete, während wir unter Schubert-Einfluss aus der Stadt raus in Richtung Grunewald fuhren. Es war ein Bild von einem Gesicht, symmetrisch und schön, mit einer leicht skandinavischen Note. Ein Gesicht wie aus einem Film von Bergman. Man wollte ständig in dieses Filmgesicht gucken, um herauszufinden, an welche Frau, die man nie getroffen hatte, sie einen erinnerte, dachte ich. Auch wenn sie ihr auf keine Weise ähnlich sah, mit ihrer spitz zulaufenden Nase, den geschminkten Wangen, der borealen Haut und dem hellblonden Schopf, der im Laufe der Jahre immer kürzer wurde, nannte ich sie manchmal Emma, heimlich und leise, ein- oder zweimal sogar laut, was sie irritierte, aber kommentarlos zuließ. René Hamann
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