berliner szenen: Das Fernrohr blickt über den Fluss
Nach einem lange Tag voller Zoom-Konferenzen habe ich Bewegungsdrang. Als ich um acht Uhr abends zum ersten Mal die Wohnung verlasse, ist es schneidend kalt. Ich setze mich trotzdem aufs Fahrrad. Beim planlosen Querstadteinfahren lande ich in der Brommystrasse, ein 100 Meter langer Wurmfortsatz der Eisenbahnstraße zwischen Köpenicker Straße und Spree, einst die Anfahrt zur weggebombten Brommybrücke. An ihrem Ende entdecke ich ein Ponton mit Blick auf den Fluss. Am Geländer ein Fernrohr, mit dem man im „Living Levels“-Gebäude auf der anderen Seite der Spree spannen kann. Ich erinnere mich daran, wie wir damals gegen den Bau der Luxusapartments zwischen East Side Gallery und Fluss demonstriert haben. Hat bekanntlich nichts genützt.
Vor dem Fernrohr liegt eine Matratze unter einer Plastikfolie. Ich steige darauf, gucke durchs Okular und fühle mich wie James Stewart in Hitchcocks „Fenster zum Hof“. Viel ist im Bau auf der anderen Flussseite nicht zu sehen. Die meisten Wohnungen sind dunkel, bloß ein Wohnzimmer wird von einem gigantischen Fernsehschirm in kaltes Blau getaucht. Dann entdecke ich eine Schautafel, die auf der gegenüberliegenden Flussseite gebaute oder geplante Gebäude zeigt – dazu scheint irgendwann sogar mal ein Riesenrad hinter dem Ostbahnhof gehört zu haben. Erst glaube ich an eine „kritische Intervention“ von Stadtaktivisten, aber das Schild scheint ernst gemeint zu sein.
Während ich gucke, taucht neben mir ein Typ auf. Er zieht die Plastikfolie von der Matratze, wischt sie mit einem Lappen ab und packt einen Schlafsack aus. Ich stehle mich leise fort, setze mich auf mein Rad und fahre heim. Wenigstens muss ich heute Nacht bei diesen Temperaturen nicht auf einer Matratze an der Spree schlafen. Tilman Baumgärtel
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