: Sarrazin, die Abseitsfalle
AUFSTIEG Michael Horeni erzählt von den Boatengs. Eine Geschichte über Fußball, Gesellschaft und Rassismus
VON OMID NOURIPOUR
Sein Ersatzmann Lars Bender hat gegen Dänemark den entscheidenden Treffer geschossen. Aber keiner glaubt ernsthaft, dass er Jérôme Boateng das Wasser reichen kann. Der Verteidiger der deutschen Nationalmannschaft spielt in einer anderen Liga. Und beliebt ist er auch noch.
Der gute Klang des Namens Boateng in Deutschland ist nicht selbstverständlich. Jahrelang waren die Boatengs die Rüpel der Nation. Kevin-Prince, heute der Spielmacher des AC Mailand, war in den Tagen vor der Weltmeisterschaft 2010 der meistgehasste Mann Deutschlands, weil er Michael Ballack angeblich mit Absicht verletzt hatte. Eine Hasskampagne der Bild reichte aus, um den Namen Boateng in den Dreck zu ziehen – der kleine Bruder Jérôme wurde kurzum in Mithaftung genommen.
Doch es gibt nicht zwei, sondern drei Fußballspieler, die den Namen Boateng tragen, und in ihrer Geschichte spiegeln sich zahlreiche Facetten der deutschen Gesellschaft wider. Leider gibt es in Deutschland, im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern, kaum Bücher, die Zusammenhängen wie diesem auf den Grund gehen, die den Sport als Spiegelbild größerer Sachverhalte sezieren – Bücher wie Michael Lewis „The Blind Side“ oder „Moneyball“, David Remnicks Ali-Biografie oder die Autobiografien von George Best und Paul Gascoigne.
Jan-Philipp Reemtsmas Ali-Buch und einige hervorragende historische Auseinandersetzungen mit der Verquickung zwischen Sport und dem Nationalsozialismus wie „Wir waren die Juddebube“ von Michael Thoma sind dabei die Ausnahmen.
Michael Horeni hat versucht, das zu ändern, eine kleine Sportgeschichte auf die großen gesellschaftlichen Probleme zu projizieren. „Die Brüder Boateng“ ist noch lange kein Michael Lewis, ragt aber aus der deutschen Sportbuchlandschaft weit heraus. Es handelt von Jérôme, Kevin-Prince und George, drei hochtalentierten Brüdern, die in einem Fußballkäfig in Wedding gelernt haben, wie man sich auf dem Platz durchsetzt. Jérôme wird einer der Bayern-Lieblinge, Kevin-Prince verhasst, George, der Älteste und Begabteste der drei, landet erst einmal im Gefängnis. Was führt zu diesen verschiedenen Wegen? Ein wichtiger Grund: „Kevin hatte es viel schwerer als ich. In Wedding aufzuwachsen ist anders als in Wilmersdorf“, sagt Jérôme. Damit führt Horeni mitten in die deutsche Integrationsdebatte.
Und verschont hier niemanden: Franz Beckenbauers unsägliche Aussagen zum Zwangsgesang der Nationalhymne, das deutsche Schulsystem, Hertha BSC. Er geht allen relevanten Lebensstationen der drei Brüder nach und stellt immer wieder die Leitfrage: Was ist bei dem einen schiefgegangen und bei dem anderen nicht? Dabei verfällt er nicht in Sozialromantik und lässt vor allem George in der ruhigen Art eines Geläuterten die Fehler der Brüder aufzählen.
Kevin-Prince hat als einziger der drei Brüder nicht ernsthaft mit Horeni zusammengearbeitet. Es schimmert durch, dass er eigentlich kein Vertrauen mehr in deutsche Journalisten hat. Wer kann es ihm verübeln, nachdem er für sein hartes Foul von der Bildzeitung „Arschloch“ genannt wurde? Nachdem er dann wochenlang wüsten rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt war, ohne dass sich jemand ernsthaft vor ihn gestellt hätte? Horeni hat ein stimmiges Bild der drei Brüder und ihrer auseinanderlaufenden Lebensläufe gezeichnet. Es wird deutlich, welche riesige Rolle strukturelle Defizite der deutschen Bildungs- und Integrationspolitik spielen, wenn es um Förderung oder eben Verschwendung von Talenten geht.
Und dann kommt Sarrazin ins Spiel. Eben noch werden Jérôme Boateng, Sami Khedira und Mesut Özil nach dem Multikulti-Volksfest bei der WM 2010 vom Bundespräsidenten ausgezeichnet, und im nächsten Augenblick bekommt Thilo Sarrazin Beifall für seine kruden Thesen über die angeblich parasitäre Migration nach Deutschland. Horeni versucht keine umständlichen Erklärungen, er ist schlicht ratlos. Wer kann es ihm verdenken?
■ Michael Horeni: „Die Brüder Boateng. Drei deutsche Karrieren“. Tropen Verlag, Stuttgart 2012, 272 Seiten, 18,95 Euro