Raffiniertes Mördergemendel

CRIME SCENE In seinem Justizthriller „Verschwiegen“ erzählt William Landay humangenetisch brisant

Die US-amerikanische Zivilisation hat viele kulturelle Eigentümlichkeiten hervorgebracht. Eine davon ist der Justizthriller. Autoren wie John Grisham und Scott Turow erfreuen sich auch hierzulande recht großer Beliebtheit bei der Leserschaft, doch ist das wahrscheinlich zum Teil eben diesem Exotenbonus geschuldet. Dass wir selbst Ähnliches hervorbringen könnten, scheint unwahrscheinlich. Da man diesseits des großen Wassers keine Geschworenengerichtsbarkeit kennt, fällt ja auch der Ausgang eines Prozesses deutlich weniger unwägbar aus und ist als Anlass für Spannungsliteratur somit längst nicht so attraktiv.

Der Autor William Landay war selbst Jurist, bevor er sich aufs Bücherschreiben verlegte, und dass er dies nicht ungern gewesen ist, lässt sich aus der akribischen Ausführlichkeit schließen, mit der er in seinem dritten Roman „Verschwiegen“ die Zeugenbefragungen wiedergibt, die im Laufe des Prozesses, um den es geht, so anfallen. Dieser Prozess allerdings hat es in sich. Die Konstellation, die Landay entwirft, birgt reichlich Spannungspotenzial, und daher lässt man sich von der juristischen Detailverliebtheit auch nur wenig stören.

Ein Vierzehnjähriger ist des Mordes an einem Gleichaltrigen angeklagt. Er ist der Sohn des Ich-Erzählers Andy Barber, der seinerseits als Staatsanwalt arbeitet, aber suspendiert wird, als sein Sohn Jacob unter Verdacht gerät. Zwar sind es lediglich Indizien, die auf Jacob hinweisen; doch das reicht, um die Familie zu Ausgestoßenen in ihrer großbürgerlichen Wohngegend in einem Bostoner Vorort zu machen. Und so finster die Situation sich ohnehin schon darstellt, wird alles noch schlimmer, denn Andy findet sich durch den Verdacht gegen Jacob mit seinem eigenen dunklen Familiengeheimnis konfrontiert, das er sogar der Gattin gegenüber stets verschwiegen hat. Sein eigener Vater nämlich sitzt schon seit Jahrzehnten wegen Mordes hinter Gittern, und auch dessen Vater war ein skrupelloser Krimineller wie schon der Großvater. Andy ist der Erste in einer langen Reihe männlicher Nachkommen, der keine Neigung zur Gewalttätigkeit hat. Aber hat er möglicherweise seinem Sohn das „Mördergen“ vererbt?

Trotz einer nicht wegzudiskutierenden Überkonstruiertheit des Plots muss man Landay Respekt zollen für die Raffinesse, mit der er den Justizthriller mit dieser humanbiologischen Fragestellung verwebt, an der sich wohl Eltern von Problemkindern häufig abarbeiten: Haben wir bei der Erziehung versagt? Oder ist man generell machtlos gegenüber den genetischen Anlagen des missratenen Nachwuchses? Eine spannende Ausgangsfrage für einen Thriller, aus der man allerdings mehr hätte machen können. Denn Landay bleibt hartnäckig auf der Oberfläche dessen, was er andeutet. Ausflüge in menschliche Abgründe bleiben aus. Personenzeichnungen geraten im Allgemeinen schlicht und im Falle des an sich so ambivalent angelegten Jacob geradezu fahrlässig blass. Das ist schade; aber trotz allem gibt es schlimmere Arten der Zeitverschwendung, als dieses Buch bis ganz zum Ende zu lesen. Ist nämlich dann doch recht spannend gewesen. KATHARINA GRANZIN

William Landay: „Verschwiegen“. Aus dem Englischen von Sylvia Spatz. carl’s books, München 2012. 478 Seiten, 14,99 Euro