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Archiv-Artikel

Die Sehnsucht nach Aroma

REZEPTOREN Der Geruchssinn wird gern unterschätzt. Aber wenn er ausfällt, fallen auch Erinnerungen aus. Von einer Frau, die endlich weiß, wie Rosen duften – und einem Mann, der sich das Riechen für Festtage aufhebt

Vanille in der Luft

■ Der Sinn: Der Geruchssinn ist der komplexeste chemische Sinn und wird von der sogenannten Osmologie erforscht. Er ist bereits bei der Geburt ausgereift, beeinflusst den Geschmackssinn und wird umgekehrt von diesem beeinflusst. Ob er einen Geruch mag, entscheidet der Mensch, noch bevor er ihn erkennt. Dabei spielen meist persönliche Erfahrungen, die er mit dem Geruch verbindet, eine Rolle.

■ Die Schwelle: Ein Milligramm Vanille pro 1.000 Kubikmeter Luft genügt, um uns etwas riechen zu lassen. Erst wenn die Konzentration etwa fünfzigmal so hoch ist, erkennen wir allerdings, dass wir Vanille riechen.

■ Die Störung: Anosmie ist der vollständige Geruchsverlust, der oft bagatellisiert wird, jedoch zu psychischen Belastungen wie Depression oder Sozialangst führen kann.

VON BEATE SCHEDER

Immer an Weihnachten wagt er es. Dann verdrängt Bernd Rieck den Gedanken an die starken Nebenwirkungen und nimmt vierzehn Tage hoch dosiertes Cortison. Die Tabletten mildern die chronische Entzündung in seinen Nasennebenhöhlen, aber sie greifen auch seine Knochen an. Nur unter Einfluss des Medikaments kann der Rentner die Welt so wahrnehmen wie andere: Dann kann er riechen. Lebkuchen, Gänsebraten, Zimt und Schokolade – die Dezemberaromen lassen ihn an seine Kindheit denken, eine leichte Zeit, in der seine Nase noch so funktionierte, wie sie sollte.

Aber jetzt, im Sommer und mit Ende sechzig, ist alles gleich. Man wisse nicht, ob man nach Schweiß rieche oder frisch, könne nicht mitreden, wenn sich über Duftnoten eines Weins unterhalten wird, mit geschlossenen Augen wisse man nicht mal, ob man auf einem Salami- oder Leberwurstbrot kaue. Bernd Rieck sagt: „Du isst nur irgendwas.“

1995 fiel ihm das Atmen zunehmend schwer, „die Polypen“, hieß es, sie wurden entfernt. Atmen konnte er danach wieder gut. Aber riechen: überhaupt nicht mehr. Eine Komplikation vielleicht? Eher: keine Seltenheit. Wie das sein muss, keinen der rund 10.000 Gerüche wahrzunehmen, die wir unterscheiden können, ist kaum vorstellbar und wenig erforscht. Entwicklungsgeschichtlich liegt der Geruchssinn im ältesten Teil des Großhirns. Kein anderer Sinn ist so stark an Emotionen und Erinnerungen gekoppelt, denn das Riechhirn sitzt im Limbischen System – und das verantwortet unsere Gefühle.

In der Evolution war – und ist – der Geruchssinn für die Partnerwahl und Nahrungszufuhr bedeutend – und um uns vor Gefahren zu warnen, vor Bränden oder verdorbenem Essen zum Beispiel. Trotzdem ist er der am meisten vernachlässigte Sinn. Wer nichts sehen kann, ist blind, wer nichts hören kann, ist taub, wer nichts riechen kann, ist: anosmisch. Ein Wort, das nur selten fällt, dabei leiden etwa fünf Prozent der Bevölkerung Deutschlands unter einer Riechstörung – die meisten an Entzündungen in den Nasennebenhöhlen, eben oft verursacht durch Polypen.

Bei anderen tritt der Geruchsverlust nach einem profanen grippalen Infekt auf oder nach einem Schädelhirntrauma. Und auch neurologische Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer können zu Riechstörungen führen. Viele Betroffene fühlen sich, wie Bernd Rieck, stark in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt oder psychisch belastet. Manche aber bemerken ihre Riechstörung nicht. So wie Anna Leuner*.

Anna Leuner wunderte sich damals auf dem Schulweg, wenn ein Hundehaufen auf der Straße lag und die Kinder Abstand hielten – und darüber, dass sich die Kinder wunderten, dass sie sich nicht ekelte. Solche Momente waren ihr peinlich, aber so richtig begriff sie nicht, was ihr fehlte. Anna Leuner hatte nicht gelernt, was Riechen bedeutet.

„Ich dachte schon, dass ich riechen kann“, sagt sie. „Nur nicht besonders gut.“

Vor einem halben Jahr kam sie, heute Sozialpädagogin und 41, zu Önder Göktas, einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der lange zu Riechtrainings forschte und der sagt: „Wöchentlich haben wir mindestens einen Patienten mit Riechstörung. Anosmie wird aber immer an den Rand gedrängt. Der Geruchssinn sei ja nicht überlebenswichtig und damit nicht relevant, heißt es oft.“ In seiner Berliner Praxis erfuhr Leuner erstmals, dass sie wegen ihrer großer Polypen nicht riechen kann. Sie wurden ihr entfernt – und die Atembeschwerden und Niesanfälle, die sie lange plagten, blieben endlich aus. Anna Leuner roch. „Am Tag nach der Operation brachte mir mein Mann Blumen mit“, sagt sie. „Und ich bemerkte, dass sie duften.“

„Jeder Mann riecht doch gerne eine etwas parfümierte Frau“, sagt Bernd Rieck. Er ist mittlerweile fünf Mal operiert worden. Ob seine Frau Parfüm aufgetragen hat, muss er sie fragen. Sie sei überhaupt die Einzige, die ihm helfe, schmutzige von frischer Wäsche zu trennen. Sein Defizit behalte er sonst für sich. „Es kann mir ja eh keiner Rat geben.“

Immer wieder wuchsen bei ihm Polypen nach, immer wieder musste er sie loswerden. Zwischendurch recherchierte Rieck im Netz. Nach Studien, Behandlungsmöglichkeiten, Hilfe. „Ich war auch mal in der Universitätsklinik in Dresden, wo es eine überregionale Arbeitsgruppe für Riechstörungen gibt, unter der Leitung von Professor Hummel“, erzählt Rieck. In einem Testverfahren wurden dort die elektrischen Signale gemessen, die von den Riechrezeptoren an das Gehirn gesendet werden. Bei Rieck ist es die permanente Entzündung, die verhindert, dass die Ströme ankommen. Nur wenn er Cortison einnimmt, gelangen sie ans Ziel.

Eben an Weihnachten.

„Wenn ich riechen kann, bin ich ein anderer Mensch“, sagt er. Fröhlicher und lebhafter sei er dann und nicht so sachlich. Ganz langsam käme der Geruchssinn unter Cortisoneinfluss zurück. „Man wartet darauf und denkt auf einmal: oh. Ich komme in die Küche, meine Frau bereitet vielleicht gerade das Essen vor und ich kann es riechen.“ Welchen Duft er dann am meisten genieße? Den Frühstückskaffee, antwortet er, die Ledersitze seines Autos, die Obstabteilung im Supermarkt.

Schlechten Geruch kenne er nicht mehr. „Wenn ich etwas riechen kann“, sagt Bernd Rieck, „ist es für mich immer etwas Gutes.“

Auch ihn hat Göktas, der HNO-Arzt aus Berlin, das letzte Mal operiert. Im Januar. Mit ständigen Kontrollen und dem Absaugen von Schleim versuchen sie nun, die Entzündung erst gar nicht wieder aufkommen zu lassen. Bernd Rieck hofft.

Und Anna Leuner hat gute Chancen, ihren Geruchssinn zu behalten. Mit dem Rauchen hat sie vier Tage nach ihrem Eingriff aufgehört. „Für mich verbreiten Zigaretten jetzt den schlimmsten Gestank.“ Was sie besonders gerne, am liebsten rieche? Sie überlegt nicht lang. Rosen und ihre siebenjährige Tochter.

* Name geändert