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Archiv-Artikel

Der Stich

VERLETZUNG Marc wird am helllichten Tag niedergestochen. Einfach so. Er überlebt, die Wunde wächst zu. Aber er und seine Familie haben bis heute zu kämpfen. Mit Wut, mit Angst, mit offenen Fragen. Eine Geschichte über die Folgen von Jugendgewalt

Nur Zeuge und Zuschauer

■ Die Tat: Am 27. April 2011 gegen 16 Uhr sticht ein 15 Jahre alter Teenager mitten in Wilhelmshaven einen 16-jährigen Schüler nieder. Den ersten Stich in Richtung Brust kann der abwehren, der zweite trifft ihn über der Hüfte, als er sich gerade wegdreht. Er bricht zusammen, verliert viel Blut und sitzt danach zunächst im Rollstuhl.

■ Die Opfer: Mehr als ein Jahr später hat immer noch kein Prozess stattgefunden. Die Familie hat versucht, bei dem Strafverfahren gegen die Täter als Nebenkläger aufzutreten. Das ist im Jugendstrafrecht allerdings nur in besonders schwerwiegenden Fällen möglich – und auch erst seit das Gesetz vor einigen Jahren im Sinne der Opfer geändert wurde. Eine Tötungsabsicht erkannte das Landgericht Oldenburg aber nicht. Deshalb wurde der Fall zurück ans Amtsgericht Wilhelmshaven verwiesen. Das Opfer und seine Familie werden beim Prozess somit nur zusehen. Immerhin gibt es endlich einen Gerichtstermin: am 11. Juli.

■ Das Recht: Rechte von Opfern sind in den vergangenen Jahren mit Gesetzen gestärkt worden. Im Jugendstrafrecht soll jedoch weiter die Resozialisierung im Vordergrund stehen, nicht die Genugtuung der Opfer durch Vergeltung.

AUS WILHELMSHAVEN JOHANNES GERNERT (TEXT) UND KAY MICHALAK (FOTOS)

Das machst du ja eh nicht, sagt Marc. Dann schwingt die Klinge auf ihn zu. Dann reißt er den Arm hoch, das Messer bleibt hängen. Er schlägt mit seiner Tasche nach der Klinge. Dann hält ihn jemand fest. Er windet sich weg.

Und dann wird es warm, da unten, der Puls hämmert durch seinen Körper. Marc schreit. Marc rupft sich die Hose herunter. Warm und nass. Er schaut nach unten, es spritzt, im Takt seines Pulses, spritzt es heraus. Er wählt, 1, 1, er trifft nicht, 1, 1, er zittert, 1, 1, 2.

Er wirft sich über das Geländer der Unterführung, zur Straße hin, ohne Hose, es spritzt, der Puls hämmert es heraus. Seltsam langsam.

Sein Kumpel Batu heult. Die anderen sind weg, weggerannt. Kein Auto hält.

Gökerstraße, Wilhelmshaven, Samstagnachmittag, 27. April 2011. Ein merkwürdig heißer Frühlingstag. Sie wollten zum See.

Und dann hält doch einer, Onkel Ralle, sein Onkel, der zufällig vorbeigefahren ist gerade. Er nimmt ein T-Shirt, presst es darauf, nimmt einen Gürtel, zieht zu. Ralle ruft den Vater an: „Dein Sohn liegt hier. Die haben deinen Sohn abgestochen.“

Und dann fährt die Mutter los, mit der Schwester und dem Bruder, ihrem Ältesten, Richtung Krankenhaus, sie sehen den Rettungswagen, vorn Onkel Ralle. Und die Mutter schreit: „Lieber Gott, mach, dass nichts Schlimmes passiert ist.“ Die haben deinen Sohn abgestochen. Und der Bruder, der Älteste, Robin, er schreit: „Mama, halt jetzt an.“ Sie muss zu ihm. „Halt! An!“ Und sie fährt weiter. Lieber Gott, mach, dass nichts Schlimmes passiert ist. Bitte, bitte. Die haben deinen Sohn abgestochen. Lass mir mein Baby. Bitte, bitte.

„Mama, bleib hier“, ruft Marc im OP, Ärzte, Schwestern, Kittel, Blutkonserven. „Ich verlass dich nicht“, sagt Manuela Wilkens.

So fängt das alles an.

Die Mutter zittert, sie muss den Job wechseln

Die Straße von Wilhelmshaven, in der Manuela Wilkens, ihr Mann und ihr Sohn Marc ein Jahr später immer noch wohnen, ist backsteinrot, die Häuser haben Klinkerfassaden, rechteckige, geordnete Ziegel. Eine Decke aus Wolken drückt an diesem Nachmittag auf die Nordsee, auf die Stadt, auf ihre 80.000 Einwohner, viele alt, viele ohne Arbeit.

Manuela Wilkens hat den Lärm des Flachbildfernsehers weggedrückt, ihr Mann hat Atze rausgebracht, die knurrende Boxer-Bulldogge. Der Papagei fiept im Käfig. Die Mutter, ihre zwei Söhne, ihre Tochter, ihr Mann, die Freundin des Ältesten, ein Freund von Marc, sie drängen sich auf den schwarzen Ledersofas. Volles Wohnzimmer.

„Wir dachten, wir kommen mal alle“, sagt Manuela Wilkens, „um davon zu erzählen.“

Und dann erzählen sie von diesem Tag und seinen Folgen. Manuela Wilkens’ Mann, der Mechaniker, laut und norddeutsch. Dann Manuela Wilkens, dann manchmal alle. Und was sie über den Stich sagen, deckt sich mit der Aussage einer Zeugin bei der Polizei, die sich in der Ermittlungsakte findet.

Marc, 17 Jahre jetzt, sitzt still da. Sein Gesicht ist schmal und ein wenig bleich. Die Haare stehen hoch, ein bisschen wie bei einem frühen David Bowie.

Vor einem Jahr hat der eine ihn festgehalten und der andere hat zugestochen. Sie haben nur einen Spaziergang mit dem Hund entfernt gewohnt, die beiden damals.

Seitdem spürt die Familie diesen Stich, fünf Zentimeter lang, viel zu tief.

Und seitdem fragen sie sich: Wie hört das wieder auf?

Wahrscheinlich ist Manuela Wilkens der Mensch, der den Schmerz des Stichs neben Marc am deutlichsten spürt. Sie hört nicht mehr auf zu zittern. Wenn eine Sirene heult, denkt sie an Marc. „Ich hab die Angst nicht mehr rausbekommen“, sagt sie. „Man wird total bescheuert. Ich fühlte mich hilflos und schlecht. Dann habe ich mich dafür geschämt, dass ich mich so fühle. Mir ging’s ja gut.“ Sie musste aufhören, als Pflegerin zu arbeiten, wegen des Zitterns, und wechselte in die Verwaltung. Sie nimmt Antidepressiva.

„Es soll jetzt alles nur noch vorbei sein“, sagt Manuela Wilkens mit dieser Stimme, hart und brüchig wie ein altes Stofftier.

Seit einigen Wochen gibt es das, worauf sie so lange gewartet haben: einen Gerichtstermin. 11. Juli 2012. Sie hoffen, dass ein Urteil ihnen hilft, als Familie, damit der Stich besser heilt. Sie haben viel mehr darauf gehofft, als es den Termin noch nicht gab. Aber je näher er rückt, desto weniger stark wirkt er auf sie.

Der Stich in die Hüfte von Manuela Wilkens Sohn hat kaum Schlagzeilen gemacht. Es gab einen kurzen Bericht in der Nordwest Zeitung. Der Messerstich hat nicht den Nachrichtenwert von Berliner U-Bahn-Schlägereien, nicht den eines Münchner S-Bahn-Mordes. Marc hat viel Blut verloren, er saß im Rollstuhl, aber bald war klar, dass er wieder würde laufen können. Marc lebt.

Und wenn man ihn da sitzen sieht, einen Teenager, der schon etwas überleben musste, dann fragt man sich, wie er und seine Familie lernen können, mit diesem Stich zu leben? Und wie ihnen der Staat, seine Justiz, dabei helfen kann?

An diesem 27. April 2011 spricht sich alles schnell herum, Wilhelmshaven ist keine Großstadt, Facebook macht es zum Dorf. Marcs Freunde hauen den beiden aufs Maul, bevor die Polizei sie festnimmt.

Als Marc nach einigen Tagen aus dem Krankenhaus nach Hause kommt, schließt er sich nachts in seinem Zimmer ein. Er kann nicht schlafen. Er wacht schwitzend auf. Er stellt sich vor, wie es wäre, denen eine reinzuhauen. Auf der Straße dreht er sich oft um. War da jemand?

Ein Arzt schreibt ihn krank – wegen der physischen und psychischen Folgen. Eigentlich wollte er seinen Hauptschulabschluss machen, einen guten, damit er danach den Realschulabschluss schafft.

Er säuft, er schreit seine Eltern an. Und die wissen nicht, was davon die Pubertät macht und was der Stich.

Er ist jetzt ein Opfer.

Marc hört ähnlichen Rap wie der Typ, der zugestochen hat. Der schreibt Kommentare auf Facebook-Seiten von Rappern mit rasierten Schädeln. Rapper, die manchmal von Recht und Gesetz erzählen. Sie spucken die Begriffe wie Schimpfwörter auf den Asphalt. Recht, Gesetz. Opfer.

Gleich in den ersten Tagen kommt ein Mann vom Weißen Ring zu den Wilkens, von der Hilfe für Opfer. Er erzählt von einer Opferrente. Er wird eine Trillerpfeife dalassen, damit Marc um Hilfe pfeifen kann, wenn er noch mal bedroht werden sollte. Eine Pfeife?! Opfer, so etwas Ähnliches mag Marc da gedacht haben. Aber die Opferrente macht ihnen irgendwie Hoffnung. Es wirkt wie ein Zeichen, dass sich jemand kümmern könnte.

Die mach ich platt, hat Robin, Marcs großer Bruder, im Krankenhaus gebrüllt, geheult. Robin, der immer lauter war als der schüchterne Marc. Manuela Wilkens hat seine Freundin angerufen, damit sie ihn aufhält. „Dann macht man sie zu Opfern“, sagt Manuela Wilkens im Wohnzimmer, sie hat Erdbeerkuchen geholt, Sprühsahne, Kaffee, der Papagei fiept. „Aber wir wollen sie nicht zu Opfern machen.“

Am 2. Mai 2011, fünf Tage nach dem Stich, beginnt der Staat mit der Aufarbeitung der Tat. Am Vormittag befragt eine Kommissarin den Jungen, der zugestochen hat. Er ist 15, er hat schon eine Akte. Ladendiebstähle, Nötigung, Beleidigung. Er sagt, dass Marc ihn Hurensohn genannt hat. Dass er nicht mit einem Messer, sondern mit einer Schere zugestochen habe, einer halben, die er gefunden habe. Wie er zu seiner Tat stehe, fragt die Kommissarin. „Ich finde das okay.“

Man fragt sich, woraus diese verstörende Kälte erwächst.

Man kann das Julia Meunier-Schwab fragen, die vier Söhne hat und Familienrichterin ist beim Amtsgericht Wilhelmshaven. Das Amtsgericht urteilt in einem roten Klinkerbau, rote, rechteckige Ziegel.

Julia Meunier-Schwab hat mit Marcs Fall nichts zu tun, aber mit dem, was dahintersteht, und mit der Frage, was das alles bedeutet. Sieben, acht Mal im Jahr, erzählt sie, sitzen Mütter vor ihr, die das Sorgerecht für ihre Jungen abgeben wollen. Sie sagen, sie können nicht mehr gewährleisten, dass die Söhne nicht andere gefährden. Es sind oft alleinstehende Mütter, mit vielen Kindern von vielen Männern. Sitzen die Jungs bei Meunier-Schwab, weinen sie oft, aber sie kennt die Akten, in denen steht, was sie getan haben.

Was sind die Ursachen? „Das Furchtbare ist“, sagt Meunier-Schwab, „dass es die eigentlich nicht gibt.“

Sie fragt sich manchmal, ob in jedem Menschen diese Aggression steckt, die irgendwann ausbricht, wenn man ihr keine Grenzen setzt, wenn man sie nicht mit Werten einhegt. Der Vorteil von Wilhelmshaven, sagt die Richterin: dass die Verfahren sich nicht so lange hinziehen wie in Berlin, wo sie herkommt, wie in anderen Großstädten.

Es ist eine Hoffnung, die Manuela Wilkens anfangs noch hat. Schnelles Urteil. Abschließen.

Sieben Tage nach der Tat, am Vormittag des 4. Mai 2011, vernimmt die Kommissarin Marc. Er nimmt da noch starke Schmerzmittel und kann sein linkes Bein nicht heben.

Marc erzählt, woran er sich erinnert, woran sich 16 Tage nach der Tat, am 13. Mai 2011, auch sein Kumpel Batu erinnern wird, der dabei war: Sie sind auf dem Weg zum Banter See und laufen durch eine Fußgängerunterführung, als jemand ruft. Marc dreht sich um und erkennt die zwei Typen.

Er hatte beide schon auf Facebook gesehen, der eine wollte ihn angeblich fertigmachen, vielleicht, weil er was von Marcs damaliger Freundin wollte. Auf dem Frühlingsmarkt, einem Volksfest, hat er den Typen angesprochen. Was er da erzählt, fertigmachen und so? Warum machst du immer so ’nen Lauten?, hat der Typ Marc ein andermal gefragt, als sie sich über den Weg liefen. Was willst du denn, du Klappstuhl, hat Marc geantwortet. Verpiss dich, du Missgeburt, hat der Typ gesagt. Marc ist gegangen. Und dann, an diesem merkwürdig heißen Samstag, steht der wieder vor ihm und hat dieses Messer in der Hand.

Das machst du ja eh nicht, sagt Marc. Vielleicht ist das der Fehler.

„Urtriebe“, sagt die Familienrichterin Julia Meunier-Schwab, wenn sie von solchen Fällen spricht. „Eine unkontrollierte, instinktgeleitete Brutalität.“ Manchmal habe man den Eindruck, die Täter versuchen eine fast notwehrähnliche Situation zu provozieren. Damit sie zuschlagen können.

Es ist nicht mehr geworden, nicht brutaler, sagt Meunier-Schwab, sagen die Statistiken der Polizei. In den vergangenen Jahren ist die angezeigte Jugendgewalt sogar zurückgegangen. Aber es gibt diese Jungs, die nie Empathie gelernt haben, die irgendwann explodieren. Wer kümmert sich um sie? „Da gibt es ganz wenig Infrastruktur“, sagt Meunier-Schwab. „Da kommt ein Problem auf uns zu.“

Marcs Mutter will sich eigentlich nicht dafür interessieren, was mit den beiden Typen passiert. Aber sie hört im Dart-Verein, dass die Mutter des einen verprügelt worden sei, von dem anderen, weil sie die Polizei unterstützt hat. Dass ihr Wohnort jetzt geheim sei. Die Frau hat Manuela Wilkens einen Brief geschrieben. Von Mutter zu Mutter. Eine Entschuldigung. „Ich kann mir selbst nicht erklären, wie er zu so etwas fähig sein konnte.“ Ihr Sohn. Sie hat ihn zu Hause rausgeschmissen. Er ist in eine betreute Einrichtung gezogen.

Sie hören auch danach nicht auf, Marc zu bedrohen – über SchülerVZ, Facebook. Marcs Anwalt fordert einen der zwei schriftlich auf, das zu lassen, und verlangt 500 Euro Schmerzensgeld.

Die Täter beginnen sich wegen eines Mädchens zu streiten. Der eine postet: „das war ein messer und das messer hast du weggeworfenn.“ Er droht dem anderen: „aber du wierst so leiden“. Und dessen Mutter: „diese pychopaten hurentante die kriegt ersmal n backstein durchs fesnter.“

Marcs Anwalt sagt: Es lag eine Tötungsabsicht vor

Marc redet wenig mit seinen Eltern, er kommt ihnen aggressiv vor. Sie hoffen auf die Justiz, sie nehmen sich einen neuen Anwalt. Er beantragt, dass der Fall vor dem Landgericht verhandelt wird. Es habe eine Tötungsabsicht vorgelegen. Der Täter habe Richtung Brust gestochen.

Käme der Fall vor das Landgericht, könnte Marc als Nebenkläger auftreten. Er und seine Familie suchen Genugtuung und sie glauben, dass sie sie in einem Urteil finden können. Während sie auf den Gerichtstermin wartet, zweifelt Manuela Wilkens, ob sie ihrem Sohn immer das Richtige geraten hat: Halt dich raus. Sie fragt sich, ob es nicht doch besser wäre, zuzuschlagen. Als Erster.

Ende November 2011 befindet die Staatsanwaltschaft Oldenburg: „Konkrete Hinweise auf eine Tötungsabsicht liegen nicht vor.“ Der Fall geht ans Amtsgericht in Wilhelmshaven. Die Anklage lautet: gefährliche Körperverletzung. Vor dem Amtsgericht kann Marc kein Nebenkläger werden. Manuela Wilkens fürchtet, dass der Täter nur zu einem Antiaggressionstraining verurteilt wird. Die Justiz hat sie enttäuscht. Sie können nur zusehen, wie der Täter bestraft wird. Marc ist Zeuge, kein Kläger.

„Wir sind so traurig, wissen Sie. Es ist so unglaublich, wie man alleingelassen wird“, sagt Manuela Wilkens im Februar 2011, als sie das erfahren hat, mit dieser brüchigen Stimme.

Es ist juristisch nichts falsch gelaufen. Ein Anwalt hat eine Tötungsabsicht erkannt, die der Staatsanwalt so nicht sieht. Die Sache hat sich dadurch verzögert, sie ist von einem zum anderen Gericht gewandert. Bei Manuela Wilkens ist so der Eindruck entstanden, dass ihr die Justiz am wenigsten helfen kann. Vielleicht ist es auch so, unabhängig von den Verzögerungen.

Man braucht nicht nach mehr Härte im Jugendstrafrecht fragen, da sind sich viele Experten einig. Das Jugendstrafrecht ist in den vergangenen Jahren härter geworden. Die Unionsfraktion und die FDP wollen die „jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten“ noch einmal erweitern, obwohl auch sie feststellen, dass Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen „deutlich“ sinke.

Werden Menschen verurteilt, geht es um Resozialisierung – und um Vergeltung. Sie sollen wieder in dieser Gesellschaft leben können, ohne anderen zu schaden. Aber die Geschädigten sollen das Gefühl haben, es wird was getan, für sie. Vergeltung ist ein Strafzweck. „Im Jugendstrafrecht dagegen“, sagt der Jura-Professor Henning Ernst Müller, „stellt das Gesetz die Erziehung und die Resozialisierung in den Vordergrund.“ Nicht Vergeltung. Das Bedürfnis von Marc und seiner Mutter wiegt weniger.

Kann man denn Urtriebe mit Gesetzen bändigen?

Das ist für sie schwer zu ertragen, aber aus Sicht der Gesellschaft ergibt es Sinn. Es ist die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Interessen der Gesellschaft, des Täters, des Opfers. Im Strafverfahren geht es in erster Linie um die Gesellschaft. In einem Zivilverfahren, das folgen könnte, geht es um das Leid des Opfers, um Schadensersatz.

Die Richterin Julia Schwab-Meunier kennt den Wert der Vergeltung. Sie erinnert sich an einen Bekannten, der ins Gesicht geschlagen worden war. Das Strafverfahren wurde eingestellt. Aber im Zivilprozess, der folgte, sah das Opfer, wie der Täter zu einem Schmerzensgeld verurteilt wurde. „Der kam raus wie ein neuer Mensch“, sagt sie, „Das ist ganz seltsam, diese Genugtuung, die eine juristische Sanktion bringt. Das muss doch trösten irgendwie.“

Es ist der Versuch, Urtrieben mit Gesetzen zu begegnen. Aggression. Rache, Vergeltung.

Marcs Stimme ist so leise wie sein Gesicht bleich, und als die Familie erzählt an diesem Nachmittag im Wohnzimmer, da redet er nicht viel. Er legt den Kopf auf die Schulter seiner Freundin, die gekommen ist. Hat er den Typen in letzter Zeit gesehen? Nein, sagt Marc. „Ich wüsste nicht, was passieren würde, wenn er vor mir steht. Wenn er falsch gucken würde, würde ich durchdrehen.“

„Wie kann man denn falsch gucken?“, sagt Manuela Wilkens.

Sie ringt darum, eine gute, eine vernünftige Mutter zu sein. Als Robin, der Älteste, aggressiv wurde, haben sie eine Familientherapie gemacht.

„Das sind Frauenperspektiven, das verstehst du nicht, das heißt nicht umsonst: Was guckst du?!“, sagt ihr Mann. Er lässt das Lachen eines Automechanikers durch den Raum knattern.

„Dann guck ich eben weg“, sagt Manuela Wilkens, und sie klingt ein wenig trotzig, aber auch versöhnlich. Der Papagei fiept. Immer lauter. Er kreischt fast.

Manches ist besser geworden. Gar nicht wegen der Gerichte, auch nicht unbedingt wegen dieses Termins, den es nun gibt. Der, je näher er rückt, Manuela Wilkens immer egaler wird.

Irgendwann nämlich, sagt ihr Mann, der Vater, sei ihm der Arsch geplatzt. „Der hatte sich ja um 180 Grad gedreht, der Junge. Du hast ihn gar nicht mehr gesehen. Er hat nicht mehr mit uns geredet.“ Marc sitzt auf dem Sofa, still, als alle seine Geschichte erzählen. Es muss was passieren, hat der Vater gesagt. Und Marc ist zu der Therapeutin gegangen, die auf dem Zettel des Weißen Rings stand. Sie versuchen herauszufinden, ob er an einer Posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Mit ihr spricht er über alles. Das tut gut, sagt er. Sie werden auch darüber reden, wie das vor Gericht wird. Den Typ wieder zu sehen.

Es wird besser, er redet wieder mit seinen Eltern. Seine Schwester hat ihm ihr Pfefferspray geschenkt, gegen die Angst auf der Straße. Irgendwie, sagt Manuela Wilkens, sind sie durch die Sache auch zusammengerückt, als Familie.

Man solle, sagt eine Psychotherapeutin, die oft mit Opfern von Gewalt arbeitet, ohnehin nicht zu sehr auf die Gerichte vertrauen. Man wird als Opfer meist enttäuscht, auch wenn korrekt geurteilt wird. Man sieht den Täter, aber im Gerichtssaal nennen sie ihn nur Angeklagten.

Es wird besser, aber es wird dauern. Manchmal, wenn Manuela Wilkens eine Sirene hört, ruft sie bei Marc an. Wenn er nicht rangeht, wächst ihre Angst.

Neulich sind fünf Typen auf Marc losgegangen, in der Nähe der Nordseepassage. Es ging wie meist um fast nichts. Gepöbel in der Wilhelmshavener Langeweile. Marc hat diesmal zurückgeschlagen.

Die Polizei rief bei Manuela Wilkens an und hat es ihr erzählt. Sie haben die fünf Typen danach angezeigt.

Manuela Wilkens hat versucht, die Angst wegzutrinken. Dann ist sie zu den Eltern des einen, der ihn festgehalten hatte damals, und hat sie beschimpft. Was sie dafür könne, wenn ihr Sohn so etwas macht, hat die Mutter gefragt. Manuela Wilkens ist noch wütender geworden.

Am nächsten Tag hat sie sich entschuldigt. Man muss zu dem stehen, was man getan hat, so bringt sie das auch ihren Kindern bei. „Man ist doch verantwortlich“, sagt Manuela Wilkens. „Wer, wenn nicht die Eltern?“

Draußen im Flur der Wohnung liegt die blaue Mülltüte mit der alten Jeans. Das Blut ist dunkel geworden. Aber sie werden die Hose nicht wegwerfen. Nicht vor dem Prozess.

Johannes Gernert, 32, sonntaz-Redakteur. Jugendkultur ist einer seiner Arbeitsschwerpunkte

Kay Michalak, 44, Fotograf, fragt sich, warum Wilhelmshaven so wenig Geld in Jugendangebote steckt