LESERINNENBRIEFE
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Zu zaghaft

■ betr.: „Der Gipfel der Unverbindlichkeit“ u. a., taz vom 23. 6. 12

In dem Artikel „Zukunft, so wird’s“ führt Svenja Bergt aus, dass das Bruttoinlandsprodukt BIP als Wohlstandsindikator in die Kritik geraten sei. Zu zaghaft, wie ich finde.

Die extra zur dringenden Änderung dieser Kriterien des BIP ins Leben gerufene Enquete-Kommission auf Bundesebene hat sich leider heillos zerfasert. Meine Hoffnung auf eine konstruktive Wende auch. Wie wäre es aber, wenn wir das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab für Ressourcenverschwendung einführen. So startete damals ja auch diese Enquete-Kommission, nämlich mit dem Bild von „Deepwater Horizon“ (der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko) und der Aussage, dass das BIP mit dem Maß der Zerstörung wüchse, demnach Maßstab für Zerstörung sei. Dieses müsse sich ändern…

MARION ERNSTING, Steinhagen

Wenn Empathie fehlt

■ betr.: „Der Stich“, taz vom 23. 6. 12

Es ist immens wichtig, über die Folgen von Gewalt zu berichten, was in dieser Reportage gut gelungen ist. Wir erhalten auch einen Hinweis darauf, warum solcher Gewalt nicht wirklich begegnet werden kann. Zumindest im vorliegenden Fall urteilt die zuständige Richterin offenbar völlig unbelastet von psychologischen Erkenntnissen: „Urtriebe“ unterstellt sie solchen Tätern sowie „unkontrollierte, instinktgeleitete Brutalität“ – es gebe diese Jungs, die nie Empathie gelernt hätten.

Es ist leider immer noch eine weit verbreitete Ansicht, dass Kinder Mitgefühl, Kooperation und Rücksichtnahme zu lernen hätten. Das stimmt aber eben nicht: „Die tiefste und ursprünglichste Art, in der wir kommunizieren, ist eine empathische. Die Verbindung des Säuglings mit seiner Umwelt ist durch das Gehalten-, Getragen- und Berührtwerden gekennzeichnet. Die kinästhetischen Nervenbahnen sind die Tragfläche unserer unmittelbaren Perzeptionen des anderen; wechselseitig moduliert durch visuelle, akustische, taktile und Geruchssinne.“ (Arno Gruen, „Der Verrat am Selbst“, 1984/1996)

Wenn also bei Jugendlichen und Erwachsenen Empathie fehlt, muss man die Ursache in dem suchen, was Eltern ihren Kindern zum Fühlen geben. Terror und psychische Gewalt führen dazu, dass ein Kind lernt, sich gegen sein Einfühlungsvermögen zu wehren. Mutter und Vater als liebend und anerkennend sich wenigstens zu halluzinieren ist eine Frage des Überlebens. Kinder tun alles dafür, und im späteren Leben vor allem dafür, sich diesem Selbstbetrug nicht stellen zu müssen. (Hier sei insbesondere „Der Verlust des Mitgefühls“ von Arno Gruen empfohlen, 1997) In diesem Licht stellen die Ansichten der Richterin nur eine weitere Form der Gewalt dar; und man muss sich nicht wundern, wieso sich in unserer Gesellschaft nichts ändert. MARION GNUSCHKE, Kassel

Das ist gut so

■ betr.: „Köln. Lehrer sollen für Parkplatz zahlen“, taz vom 20. 6. 12

Ich bin seit zwölf Jahren Lehrerin an einer beruflichen Schule in Baden-Württemberg, unser Lehrerparkplatz ist schon sehr lange kostenpflichtig, wie vermutlich für viele Arbeitnehmer, und das ist auch gut so.

Wäre der Parkplatz kostenlos, wäre sicher weniger Geld für die Ausstattung der Schule da, das geht an der Bildung der Schüler ab (siehe Leitartikel Samstag/Sonntag). Wir haben eh zu wenig Geld, es wird weiter gekürzt. Warum sollten alle, die öffentlich oder mit dem Rad kommen, einen Parkplatz mitfinanzieren? Nein, diese Kosten gehören nur den AutofahrerInnen aufgebrummt. Auch hier hätte ich mehr Ökologie von euch erwartet.

Kostenlose öffentliche Toiletten stehen allen zur Verfügung, kostenlose LehrerInnenparkplätze nur einer Minderheit, die zwar ein Päckchen zu tragen hat, sich aber aussuchen kann, ob sie ihr Unterrichtsmaterial mit dem Auto oder mit dem Fahrradanhänger kutschiert. UTA EICHIN

Schönreden hilft nicht

■ betr.: „Sockel der Abgehängten“, taz vom 23. 6. 12

Der Bildungsbericht hört sich schlüssig an und deckt sich mit meinen Beobachtungen. Gerade, was den „Sockel der Abgehängten“ angeht. Jedoch muss ich vehement widersprechen.

Als Mitarbeiterin einer großen Jugendhilfeeinrichtung mit eigener Förderschule (für emotionale und soziale Entwicklung) kann ich nicht bestätigen, dass der Zuwachs unserer Schüler an dem Willen liegt, die Schule zu erhalten. Vielmehr ist es schon eine fast reflexartige Reaktion der Schulen, Schülern, die schwierig sind, einem sogenannten AOSF-Verfahren zu unterziehen, in dem ihr Förderbedarf festgestellt wird. Des Weiteren hoffen sie, dass die Eltern sich dafür entscheiden, das Kind nicht im gemeinsamen Unterricht, sondern an unserer Förderschule unterrichten zu lassen. Das ist einigermaßen nachvollziehbar. Denn „unsere“ Schüler gehören zu den problematischsten, die gern in der von Romantik schöngefärbten Debatte über die Schule für alle vergessen werden. Und glauben Sie mir: Auch Sie hätten ein Problem damit, wenn Ihre Kinder diese SchülerInnen „mittragen“ müssten. Sind es doch nicht selten die Eltern der Mitschüler, die der Schule „aufs Dach steigen“. Und ehrlich gesagt kann ich auch das verstehen.

Ein Schönreden hilft da nichts. Es gibt sie immer mehr: die schwer verhaltensgestörten Kinder mit Mehrfachdiagnosen, wenn man sie denn mal in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellt.

ANNELENE WAGEMANN, Warburg