Die Kreuzritter vom Checkpoint

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Gefesselte Exhäftlinge und ein Pater mit Weihwasser: „Die Situation ist so absurd, dass sie nicht noch absurder werden darf“

AUS BERLIN JOHANNES GERNERT

17:01 Uhr. Die Nachmittagssonne scheint auf Peter Pöschla. Hinter ihm Kreuze. Vor ihm Kreuze. Neben ihm Touristen mit Digitalkameras. Um ihn herum: Leute von der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft. Eine Frau flucht, eine Schande sei das für Deutschland in der Welt, wenn die Kreuze wegkämen. Und Peter Pöschla erklärt, warum das hier der Ort sein muss, an dem man der Maueropfer gedenkt, und kein anderer. Weil die Touristen herkommen und das „ganz doll und einleuchtend finden“.

Pöschla zeigt es mit den Händen: hier der Ostteil, da der Westteil. Die aus dem Osten wollen über die Mauer rüberklettern und dürfen nicht, da wird auf sie geschossen. Das ist so einfach, das können die amerikanischen Touristen ihren Kindern erklären. Dort das weiß getünchte Stück Mauernachbau, da die Kreuze. Pöschla hat hier gearbeitet, 1961 bis 1969, beim bundesdeutschen Zoll am Checkpoint Charlie, als die Mauer noch echt war. Er ist vorbeigekommen, um sich das Kiesfeld ein letztes Mal anzusehen. Der Gerichtsvollzieher wird die Kreuze bald abholen, die Alexandra Hildebrandt, die Direktorin des Mauermuseums, vor einigen Monaten hat aufstellen lassen. „Ich kenne Frau Hildebrandt lange“, sagt Pöschla, „ist ’ne schwierige Frau.“

Alexandra Hildebrandt kämpft mit ihrer „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ für die Maueropfer und gegen ein untergegangenes Unrechtsregime. Sie hat sich für diesen Kampf zwei Parzellen links und rechts von der Berliner Friedrichstraße ausgesucht, die nur ein paar Schritte vom Mauermuseum entfernt liegen. Im Oktober hat sie dort Holzkreuze in den Kies rammen lassen. An den Kreuzen kleben Namen und Fotos von Menschen, die auf der Flucht aus der DDR gestorben sind. Es war von einer Kunstaktion die Rede, aber sie hat es von Anfang an als Mahnmal gemeint. Sie hat eine Gedenkplakette vor dem Kreuzfeld anbringen lassen für ihren Mann Rainer, den Gründer des Mauermuseums, der 2004 gestorben ist. Das hier war seine Idee. Irgendwie sind die tausend Kreuze wohl auch für ihn. Als der Pachtvertrag mit dem vergangenen Jahr endete, hat seine Witwe alles stehen lassen, obwohl die Bankaktiengesellschaft Hamm, die Eigentümerin des Grundstücks, nicht verlängert hatte. Vor Gericht hat Alexandra Hildebrandt verloren. In neun Stunden, um 6:01 Uhr, will der Obergerichtsvollzieher die Kreuze holen lassen. Hildebrandt kämpft.

Sie ist längst nicht mehr allein. Die Opferverbände hat sie auf ihrer Seite, politische Gefangene der DDR, viele Touristen sowieso, die amerikanischen Republikaner in Berlin. Und seit neuestem auch die Berliner CDU. Die Direktorin hat ein klares Feindbild, das heißt rot-roter Senat im Allgemeinen und Kultursenator Thomas Flierl von der PDS im Besonderen. SED-Mitglied seit 1976 nennt sie ihn. Manche der Häftlinge, die ihre Urteile und Inhaftierungsdauer auf Schilder gedruckt und um den Hals gehängt haben, sagen Rotfaschist oder Kommunist.

18:01 Uhr. Acht Stunden vor dem Bagger rückt die CDU an. Sie haben fünf Schirme in Weiß und Rot vor der einen Hälfte des Kreuzfelds aufgestellt. Ein Mann, gekleidet und frisiert wie ein alternder Country-Rockstar, verteilt Flugblätter. Es sieht nach Wahlkampf aus. Überall sind Fotografen und Kameramänner. Die Touristen weichen auf die andere Straßenseite aus. Frank Henkel hat ein Mikrofon in der Hand, das immer wieder ausfällt. Er sagt, dass die CDU gekommen ist, „weil wir nicht klaglos hinnehmen wollen, dass dieser barbarische Akt des Abreißens stattfinden soll“, dieses „Abholzen der Holzkreuze“. Henkel ist Generalsekretär der Berliner CDU. Er wird alles gleich noch mal in die Kameras sagen. Mitglieder der Jungen Union werden den Kameras folgen und sich mit ihren Schildern hinter Henkel postieren. Auf den Schildern steht: „Erinnern. Nicht vergessen“.

Frank Henkel wirft dem Senat vor, dass er das DDR-Unrecht schmälert, indem Hildebrandts Kreuz-Installation geräumt wird, ohne dass SPD oder PDS etwas dagegen unternehmen. Es gibt allerdings eine offizielle Gedenkstätte für die Maueropfer, in der Bernauer Straße. Nur geht da keiner hin, hat Peter Pöschla gesagt, der ehemalige Zöllner. „Die Amerikaner fragen alle nach dem Checkpoint Charlie.“

Alexandra Hildebrandt mischt sich unter die Kameras und Mikrofone. Sie bitte die Bank um ein bisschen mehr Zeit, sagt sie. Sie will Geld auftreiben, um das Grundstück, auf dem die Holzkreuze stehen, zu kaufen. Aber die Frist, die die Bank gewährt hat, sei zu kurz. 36 Millionen Euro soll die Fläche kosten, dafür brauche man mehr als eine gute Woche. Von dem Kaufpreis den sie, Hildebrandt, immer nenne, will die Bank nichts wissen, behauptet eine Journalistin. „Dann lügt die Bank an der Stelle“, sagt Hildebrandt.

19:01 Uhr. Pater Vincens steht am Rand des Kiesfelds und kippt Weihwasser aus einer Plastikflasche in einen Kelch. Er hat sich seine Lesebrille auf die Nase geschoben, und jetzt spricht er von Kreuzen, von vertikalen und horizontalen Streben, die einmal zu Gott hin und einmal herunter zum Menschen zeigen, von einer einst geteilten Stadt, die jetzt wieder eins sei, von Maueropfern, die jetzt frei seien bei Gott. Pater Vincens ist Gefängnispfarrer, ein Mönch. Alexandra Hildebrandt hat ihn gebeten, die Kreuze zu weihen. Im Kamerapulk ist sein kleiner fassrunder Körper kaum zu erkennen. Er betet, geht übers Kiesfeld und spritzt das Wasser gegen die Kreuze. Martin-Michael Passauer, Generalsuperintendent der evangelischen Kirche in Berlin, steht etwas abseits und sagt, dass er vom Weihen nichts halte. Er glaubt auch nicht, dass hier „der genuine Ort des Gedenkens für die Mauertoten“ ist. Aber er bietet Alexandra Hildebrandt an, den Kreuzen nach der Räumung in seiner Kirche Asyl zu gewähren. Sie erwidert, der Berliner Bischof Huber solle sich dafür einsetzen, dass die Kreuze stehen bleiben.

Auf der anderen Seite der Friedrichstraße, vor dem zweiten Kreuzfeld, das von dem ganzen Trubel verschont geblieben ist, das auch keinen Tropfen Weihwasser abbekommen hat, stehen junge Amerikaner und lassen sich von ihrem amerikanischen Stadtführer erzählen: „There’s a lot going on with all these crosses.“ Die Hildebrandt habe hier diese Kreuze aufgestellt, um mehr Besucher ins Mauermuseum zu locken. Obwohl manche Angehörigen der Opfer das nicht gewollt hätten, manche gar keine Christen seien. Morgen wird endlich geräumt, sagt der braun gebrannte Amerikaner. Es freut ihn.

5:01 Uhr. Die Morgenluft ist warm, der Himmel grau. Auf der geweihten Seite laufen zwischen den Kreuzen ehemalige DDR-Häftlinge mit Ketten umher. Einer schließt sich für die Kameras fest. Die Polizei beginnt, die Friedrichstraße abzusperren. Die CDU kommt mit Frank Henkel und einem Kranz, den sie vors Kreuzfeld legen. Alle Protagonisten wiederholen immer noch und immer wieder, was sie am Vorabend schon gesagt haben. Der Generalsuperintendent erklärt: „Die ganze Situation ist schon so absurd, dass sie nicht noch absurder werden darf.“ Die Polizei verkündet, dass Henkel die Demonstration verlassen hat und alle anderen CDUler es auch tun sollen. Die Junge Union Lichtenberg bleibt.

6:01 Uhr. Der Obergerichtsvollzieher ist schon eine Weile da. Aber mit dem Räumen kann er seine Leute noch nicht beauftragen. Alexandra Hildebrandt steht mit einigen Vertretern der Bank auf der gesperrten Friedrichstraße und verhandelt. Sie habe eine Zusage einer Schweizer Bank, die den Kauf der Grundstücke „begleiten“ wolle. Vor Kameras wollen die Bänker nichts besprechen. Hildebrandt versucht, die Journalisten zu verscheuchen. „Wir wollen doch, dass es bleibt“, ruft sie. Die Polizei will alle Journalisten von der Friedrichstraße locken und kündigt eine Pressekonferenz mit der Museumsdirektorin in der Mauerstraße an. Hildebrandt läuft aufgebracht hin und her. „Eine Lüge.“ Wenig später sagt der Gerichtsvollzieher, die Räumung könne beginnen, die Bank sei gegen eine Fristverlängerung. Ein Lastwagen fährt vor. Alexandra Hildebrandt sieht aus, als ob sie gleich weinen würde. Es kommen kaum Tränen.

7:01 Uhr. Männer in blauer Arbeitskleidung schrauben die Verankerungen der Kreuze auf. Die Gedenkzettel mit Namen und Fotos haben sie mit Folie umwickelt. Gegenüber schreien angekettete Exhäftlinge, amerikanische und auch ein deutscher Republikaner und die Reste der Jungen Union Lichtenberg. Es nieselt.

7:15 Uhr. Sie hätten extra Kreuze mit Namen ausgewählt, hat der Polizeisprecher einer Journalistin gesagt. Und genau in dem Moment, als er über die gesperrte Straße gekommen ist, um die Namen zu diktieren, werden drüben die ersten beiden Kreuze in den Laster getragen. Hier wird nicht abgeholzt. Hier wird behutsam, aber gründlich verpackt. Ein ehemaliger DDR-Häftling schreit: „Lasst die Kreuze stehen, verdammte Scheiße.“

7:45 Uhr. Alexandra Hildebrandt läuft mit einem Polizisten über die Friedrichstraße und sieht dabei zu, wie ihre Schlacht verloren geht, Kreuz für Kreuz. Es regnet in Strömen.

12:01 Uhr. Der Regen hat aufgehört. Das erste Stück Mauer ist verschwunden, das erste Kreuzfeld wieder eine Brache. Auf dem zweiten, größeren Grundstück haben sich die Häftlinge längst losgekettet. Alexandra Hildebrandt steht an der Polizeiabsperrung und lässt sich von einem Ostberliner versichern, dass das „das richtige Mahnmal am richtigen Ort“ gewesen ist. Ein schwäbisches Touristenpaar in Regencapes schlendert am Checkpoint Charlie vorbei. Sie habe gar nicht gewusst, dass die Kreuze illegal waren, sagt die Frau. Doch, doch, erwidert der Mann, deshalb seien sie geräumt worden. „Heit morge?“, fragt die Frau etwas ungläubig.