berliner szenen
: Eines Sonntags in Gatow

Kennen Sie Gatow? Nein, Gatow ist nicht das Spiel des Jahres. Laut Wikipedia ist Gatow einer der am geringsten bevölkerten Ortsteile von Berlin. Ich war noch nie dort und wäre als eingefleischter Downtowner auch nie auf die Idee gekommen, mich für diesen abgeschiedenen Ort zu interessieren, wenn nicht eine gute Freundin vom Wanderweg Westliches Havelufer geschwärmt und ausgerechnet mir vorgeschlagen hätte, sie dahin zu begleiten.

Natürlich kam ich nicht umhin, sie zu fragen, ob es der Görlitzer Park nicht auch tue. Ihr Einfall, nach Gatow zu fahren, kam mir so abenteuerlich vor, als ob sie die Masurische Seenplatte vorgeschlagen hätte. Da ich aber eher der nachgiebige Typ bin, gingen wir vor Kurzem tatsächlich dort spazieren und ich muss sagen, heute bin ich froh über meinen erweiterten Horizont. In Gatow laufen die Dinge nämlich gar nicht so anders als in Downtown Berlin.

Nachdem wir eine halbe Stunde das malerische Havelufer abgelaufen hatten, legten wir auf einer der Bänke eine kleine Pause ein. Die nächste Bank stand nur wenige Meter entfernt. Ein weißhaariger Mann mit FFP2-Maske saß dort bewegungslos, er schien ganz in seinem Blick auf den Fluss versunken. Erst als sich zwei Frauen mit prächtigen Hidschabs zu ihm setzen wollten, regte er sich und deutete mit einer unsicheren Handbewegung an, dass er allein bleiben wolle. Im selben Augenblick kam eine Joggerin mit Kapuzenpulli hinzu und wies ihn, die Arme energiegeladen in die Hüften gestemmt, darauf hin, dass er nicht in seinem Wohnzimmer sitze und die Bank nicht sein Sofa sei. „Diese Bank ist für alle da“, sagte sie noch, bevor der ­ältere Mann sich unter großen Mühen erhob und langsam, auf einen Gehstock gestützt, davonging, ohne ein weiteres, vielleicht Frieden stiftendes Wort.

Henning Brüns