Die Kunst der Scharlatanerie

Ein Bett nimmt den Flieger nach San Francisco und andere schön verunsichernde und oft auch witzige „Wahre Geschichten“: Das alles findet sich in den Gegenüberstellungen von Text und Bild bei Sophie Calle

Dies Bild steht bei Calle neben dem Text „Mutterschaft“ Foto: Sophie Calle

Von Frank Schäfer

Wahr ist in der Literatur stets das, was der Autor für wahr erklärt, also die Fiktion. Damit ist die Frage nach ihrer Lebensechtheit aber nicht gleichgültig. Im Gegenteil, zumindest in der realistischen Literatur sorgt sie für einen zusätzlichen Reiz, im Sonderfall der Autofiktion wächst ihr durch die Behauptung des Ernstfalls sogar ein erhöhtes Maß an Dignität zu. Dieser Mehrwert lässt sich nicht zuletzt an der Empörung ablesen, mit der das Publikum auf die Täuschung reagiert, also wenn das vermeintlich wirklich Erlebte sich doch bloß als Literatur erweist.

Wer jedoch Wahrheit schon im Titel führt, das wissen nicht nur die Leser der letzten Seite dieser Zeitung, der verdient maximale Skepsis. Die ist angebracht bei Sophie Calle. Berühmt wurde die Konzeptkünstlerin durch „Das Adressbuch“, eine später als Buch erschienene Serie in der Zeitung Libération. Calle findet das Adressbuch eines Mannes, nimmt mit dessen Familie und Freunden Kontakt auf und montiert deren Hinweise und Geschichten zu einem biografischen Porträt des Unbekannten. Der ist erbost und wehrt sich. Er treibt ein Nacktfoto Calles auf, aus ihrer vorherigen Karriere als Stripperin, und das druckt die Zeitung dann ebenfalls ab.

Was für eine Geschichte! Die französische Öffentlichkeit allerdings zweifelt nicht an ihrer Echtheit und empört sich über Calles Indiskretion. Sie muss sich den Vorwurf gefallen lassen, als literarische Stalkerin im Privatleben anderer zu schnüffeln und auf Persönlichkeitsrechte zu pfeifen. Ihr anschließendes Projekt „Wahre Geschichten“, das jetzt zum zweiten Mal, um einige Geschichten erweitert auf Deutsch erscheint, ist eine Reaktion darauf. Calle will beweisen, dass sie mit der eigenen Vita genauso indiskret umgeht. Aber ihre Person ist bekannt, anders als der obskure „Pierre D.“ aus dem „Adressbuch“, und so flüchtet sie sich in die Inszenierung. Ihre kurzen, oftmals nicht mal eine halbe Seite langen und jeweils durch ein Foto vermeintlich beglaubigten Storys zeigen eben kein stinknormales Leben, sondern eins, das die Künstlerin überformt.

Sophie Calle: „Wahre Geschichten“. Aus dem Französischen von Sabine Erbrich. Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2021, 141 Seiten, 22 Euro

In der „Reise nach Kalifornien“ erzählt sie von einem Amerikaner, der seinen Liebeskummer in Calles Bett kurieren möchte. „Auf die Bitte einzugehen, erwies sich als heikel. Hätte ich den Unbekannten angesichts der Strecke, die er zurücklegen müsste, dezent hinauskomplimentieren können, wenn er mir nicht gefiel? Und außerdem gab es da schon einen Mann in meinem Bett. Zwei Monate später nahm mein Bett den Flieger nach San Francisco. Der Spediteur lieferte 1 Bettgestell, 1 Lattenrost, 1 Matratze, das Bettlaken, in dem ich geschlafen hatte, 2 Kopfkissen, 2 Kissenbezüge, 1 Bettdecke.“ Der Unbekannte quittiert den Erhalt und zeigt sich zufrieden. „Ihr Bett ist bequem. Der von ihm ausgehende Geruch beruhigt mich.“ Schließlich endet „das Leiden“, und der Mann schickt ihr Bett zurück.

Daneben stehen aber auch Texte, die weniger offensichtlich ihre inszenatorische Absicht verraten. In „Der Mundgeruch“ etwa macht der Vater scheinbar wegen ihres üblen Atems einen Termin beim Arzt. Der entpuppt sich dann aber als Psychoanalytiker. „ ,Es handelt sich hier um einen Irrtum. Mein Vater ist überzeugt, dass ich Mundgeruch habe, aber er wollte mich eigentlich zu einem Allgemeinmediziner schicken.‘ Der Psychoanalytiker antwortete:,Machen Sie immer alles, was Ihr Vater Ihnen sagt?‘ Ich wurde seine Patientin.“

Es geht Calle in allen diesen Geschichten darum, dem Schrecken des Profanen etwas Poesie abzutrotzen und die krude Realität in Form zu bringen. Und das gelingt ihr immer wieder auf suggestive, gelegentlich verstörende, meistens aber recht witzige Weise. Sie schickt einem gutaussehenden, aber schlecht angezogenem Mann jedes Jahr zu Weihnachten anonym ein Kleidungsstück und erfreut sich daran, dass er es trägt. „Wenn er eines Tages komplett von mir eingekleidet ist, möchte ich ihn kennenlernen.“

Ihre Prosa macht sich klein, sie bringt die Poesie nicht erst hervor, sondern beschränkt sich auf ihre vermeintliche Dokumentar­funktion. Ob das Geschilderte tatsächlich stattgefunden hat, ist eigentlich egal

Calles Texte sind Beschreibungen ihrer alltäglichen Aktionskunst. Und mitunter klingen sie tatsächlich wie Erklärungstafeln zu einer Installation oder einem Happening. Unaufgeregt, sachlich, pointiert. Ihre Prosa macht sich klein, sie bringt die Poesie nicht erst hervor durch sprachliche Exaltiertheit, sondern beschränkt sich auf ihre vermeintliche Dokumentarfunktion. Ob das Geschilderte tatsächlich stattgefunden oder ob Calle es nur imaginiert hat, ist eigentlich egal. Für seine Wirkung aber auch nicht nebensächlich. Gerade der Umstand, dass beides möglich ist, bringt eine schöne Verunsicherung in die Lektüre.

Scharlatanerie ist jeder Kunst ohnehin eingeschrieben, das weiß keiner besser als Sophie Calle. „Einmal hatte ich eine Ausstellung im Museum of Modern Art in New York. Meine Mutter war auf der Vernissage. Als sie meine Werke zwischen denen von Hopper und Magritte sah, war sie ganz verblüfft und rief ohne jeden Anflug von Boshaftigkeit:,Die hast du aber ganz schön reingelegt!‘ “