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Die Nacht ist ein Rabenflügel

In ihrem autobiografisch geprägten Roman „Körper-Kintsugi“ erzählt Senka Marić von ihrer Brustkrebserkrankung

Wider die Vereinzelung. Das Bild zeigt eine weitere Patientin: M. D. Cuozzo, nach ihrer Brust­amputation Foto: B De Gea/NYT/Redux/laif

Von Carola Ebeling

Kintsugi ist eine japanische Kunsttechnik, bei der zerbrochene Keramik mit flüssigem Gold oder Platin repariert wird. Dabei betont man die beschädigten Stellen, statt sie zu kaschieren, und würdigt so die einzigartige Geschichte des Gegenstands. In Kintsugi verbindet sich die Trauer um Verlorenes mit der Akzeptanz von Veränderung. „Körper-Kintsugi“ hat die bosnische Lyrikerin Senka Marić ihren ersten autobiografisch geprägten Roman genannt, denn es ist ihr Körper, der in Fragmente zerfällt und schließlich doch von Narben gezeichnet überlebt. Sie erzählt von ihrer Brustkrebserkrankung, die Diagnose erhielt die Mutter zweier Kinder 2014 im Alter von 42 Jahren.

Doch: „Wie erzählt man eine Geschichte, die auf der Zunge zerfällt und sich weigert, eine feste Form anzunehmen?“ Diese Frage hat sich ähnlich jüngst auch die US-amerikanische Lyrikerin Anne Boyer in ihrem mit dem Pulitzer-Preis 2020 ausgezeichneten Band „Die Unsterblichen“ gestellt. Sie war 41 Jahre alt, als bei ihr ein aggressiver Brustkrebs diagnostiziert wurde. Boyer geht es um eine literarische Auseinandersetzung, die die gesellschaftspolitische Dimension der Krankheit, die vor allem Frauen trifft, einbezieht. Sie widersetzt sich der „gegenwärtigen Brustkrebserzählung“, welche die Vereinzelung der Betroffenen befördere und die das Ausmaß von Verlusten und Schmerz zugunsten eines „rosaroten“ Optimismus verschleiere.

Marić’Ansatz ist anders, doch auch sie ringt um eine Form, auch ihr gelingt eine genuin literarische Auseinandersetzung, welche die erschütternde Wucht dieser existenziellen Erfahrung auszudrücken vermag. Derer gibt es aktuell tatsächlich nicht viele.

„Die Panik ist Schlamm. Schwappt in deinen Mund. Die Nacht verschlingt dich“, heißt es, nachdem die Erzählerin den Knoten in der Brust ertastet hat. Es ist der Beginn einer katastrophischen Erfahrung. Alles fällt auseinander: Das Selbst, der Körper, die Wirklichkeit werden in der Angst, im Schmerz, in entfremdenden medizinischen Prozeduren fragmentiert. Die Sprache versagt: „immer waren Worte der Faden, mit dem sich Emotionen an die Wirklichkeit heften ließen. Jetzt fehlen sie.“

Der Text widerlegt das dauerhafte Verstummen. Er ist zum einen ein Bericht der Krankheit, ihres Verlaufs, der Therapien, der Stufen und Zuspitzungen von Angst und Schmerz – und des Sich-dagegen-Stemmens. Er bleibt ganz bei den Wahrnehmungen der Erzählerin, die über das „du“ in eine Art Zwiegespräch mit sich selbst tritt. Darin ist er nah und intim und ermöglicht doch zugleich eine Art vielleicht notwendiger Distanz, wie ein Blick von außerhalb der Erzählerin auf sich selbst, der es ihr möglich macht, über die bedrohlichen Erlebnisse rückblickend zu sprechen/schreiben. Selten wechseln einzelne Sätze zum „ich“, Ausrufe bedrängendster Not oder Selbstappelle des Durchhaltens.

Marić schreibt oft im Präteritum, wechselt dann in die Gegenwartsform, lässt so die Situationen wieder ganz unmittelbar erscheinen. Doch baut sie zudem Rückblenden in Kindheit und Jugend ein. Das Erinnern ist eine Suche nach Zusammenhängen, wo die Erkrankung und ihre Folgen alle vertrauten Koordinaten des Selbst auseinandersprengen. Gefühle wie Scham, Angst oder Schuld, aber auch der immer wiederkehrende unbedingte Überlebenswille sowie der Widerstand gegen die Erwartungen, die man an sie als Krebspatientin heranträgt – die Erzählerin verfolgt ihre Spuren weit zurück und lässt die Ursprünge in atmosphärisch dichten Szenen greifbar werden.

Senka Marić: „Körper-­Kintsugi“. Aus dem Bosnischen von Marie Alpermann. eta Verlag, Berlin 2021, 158 Seiten, 19,90 Euro

„Du paradierst mit deinem kahlen Kopf, weiß und müde. Mit ihm verkündest du, dass du stark bist, dass du, um zu bleiben, jeden Preis zu zahlen bereit bist.“ Der Preis ist hoch, das, was heilen soll, ist zugleich pures Gift, die Chemotherapien drohen sie umzubringen. Noch ein Tumor, noch eine OP. Manchmal schreibt Marić in einer fast stakkatohaften Sachlichkeit, dann scheint die Zumutung der bloßen Fakten zusätzliche Worte zu verschlucken. Doch entwickelt der Text seinen eigentümlichen Sog nicht zuletzt durch seine Metaphern, seine poetischen Bilder.

„Die Nacht ist ein Rabenflügel, durch den kein Licht dringt.“ Aber in der Nacht kommt Verstärkung, erscheinen andere Frauen: Medea (wie Christa Wolf sie sah), Medusa, Penthesilea und namenlose Tote, die der Erzählerin ihre verlorenen Brüste zeigen, sie um das Bewahren und Erzählen ihrer Geschichten bitten. Eine Art Genealogie weiblichen Schmerzes, die vage bleibt und doch wider die Vereinzelung der Erzählerin steht: Sie ist eine von vielen, in den Traumbildern wirken Trost, Solidarität und Empathie, die in der Realität oft fehlen. Ein Aspekt, der bei der eingangs erwähnten Autorin Anne Boyer zentral ist, die sich – mit analytischerem Blick als Marić – auf literarische Vorläuferinnen wie Susan Sontag, Audre Lorde und Kathy Acker bezieht, die alle über ihre Brustkrebserkrankung schrieben.

Auch Marić entzieht sich der Erzählung eines rein individuellen Kampfs, der mit dem Überleben belohnt wird. Keine Heldinnengeschichte, sondern ein eindrückliches, berührendes literarisches Zeugnis.

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