Die Kamera wählt aus, was erzählt wird

KOPFKINO Der Filmwissenschaftler Pavle Levi, Experte für jugoslawischen Film, sprach an der Humboldt-Universität über das Filmemachen als „materialistische Intervention“, die Räume für politische Aktionen schafft

Das wichtigste Werkzeug der Filmemacher ist nicht das Schneiden, sondern der Dreh selbst

VON DORIS AKRAP

Ein menschliches Auge ist nicht in der Lage, 16-mal in der Sekunde zu blinzeln. Das müsste es aber können, um den „Blinzelfilm“ von Milenko Avramovic und Misa Jovanovic von 1971 zu sehen. Die beiden jugoslawischen Filmemacher entwickelten für diesen Film eigens einen Apparat, das „Blink-O-Scope“ („Trepljoskop“): Er besteht aus einem kurzen 8-mm-Filmstreifen, der auf einem Pappkarton in zwei Schlaufen gesteckt ist. Würde der Filmstreifen mit einer Geschwindigkeit von 6,1 Zentimeter pro Sekunde hoch und runter bewegt und der Zuschauer dabei 16-mal pro Sekunde blinzeln, entstünde vor dem kleinen Loch im Pappkarton ein bewegtes Bild. Den Blinzelfilm anzuschauen ist also nur „theoretisch“ möglich. Es braucht eine technische Apparatur, die das bewegte Bild herstellen kann.

Mit der Vorstellung dieser Installation begann der an der Universität Stanford lehrende Filmwissenschaftler Pavle Levi seinen Vortrag. Auf Einladung des Slawistischen Instituts an der Humboldt-Universität sprach er am Dienstagabend über „Machine and Machination: On the Politics of the Cinematic Apparatus“. Die Frage, die Levi interessiert und die er mit dem Blink-O-Scope angestoßen wissen will, ist – um es mal ohne die von ihm bemühten Theoretiker von Louis Althusser bis Roland Barthes zu sagen –, ob so was wie Kopfkino möglich ist.

Einfache Antwort am Ende des Vortrags: Ohne den kinematografischen Apparat gibt es auch keine Vorstellung bewegter Bilder. Das eigentliche Hauptthema jedoch, das Levi umtreibt, ist die „materialistische Intervention“ des Filmemachens. Denn so wie die Kamera nicht einfach nur das Abbild der Realität herstellt, sondern diese erst erschaffe, könne sie auch Räume für politische Aktionen eröffnen. Der Apparat ist daher, so Levi mit einem Zitat des belgischen Filmwissenschaftlers Phillipe Dubois, „Machenschaft und Maschine“. Diese These belegt Levi mit Beispielen jugoslawischer Filmemacher und Experimentalkünstler der 70er und 80er Jahre. Levi ist Experte dieser speziellen Szene, seine Studie „Disintegration in Frames: Aesthetics and Ideology in the Yugoslav and Post-Yugoslav Cinema“ von 2007 gilt nicht nur unter Slawistik-Studenten und Jugo-Kulturnerds als Standardwerk des (post-)jugoslawischen Kinos.

Zelimir Zilnik, Filmemacher aus Serbien, gehört für Levi zu denen, die den Prozess der „Kinematisierung der Realität“ am genauesten verfolgen. So in seinem Film „Oldtimer“. Der Film sollte die Reise zweier slowenischer Rockkritiker und Regimegegner Ende der 80er Jahre durch Serbien und Bosnien erzählen. Doch während des Drehs begegnet das Filmteam den ersten Versammlungen der Anhänger Slobodan Milosevic’, der die Demonstrationen nationalistischer Serben im ganzen Land mit organisierten Bustransporten dirigierte.

Zilnik hält die Kamera auf die Demos wie auf seine staunenden Schauspieler. Diese „spontane Simultanität“ führt zu der Frage, wer in dieser Situation eigentlich die Schauspieler sind: die Statisten von Milosevics Inszenierung oder Zilniks Darsteller? Wer oder was konstruiert hier gerade Realität? Zilniks Kamera oder Milosevic’ Propaganda?

Zum aktiven Teil gesellschaftlicher Kämpfe werde die Kamera, so Levi, wenn sie das Mandat erhalte, auszuwählen, was erzählt wird. So wie es Zilnik in seinem Film „Divided God“ vorführt. Von einer Doku über die Turmspringer von Mostar nach Ende des Bürgerkriegs wird sein Film zu einer Doku über seinen slowenischen Tonmann, der während der Aufnahmen entscheidet, ebenfalls von der 20 Meter hohen Brücke zu springen. Nicht das Schneiden des Filmmaterials sei das wichtigste Werkzeug der Filmemacher, sondern der Dreh selbst, sagt Zilnik. Dabei entstünden Situationen, die ohne Kamera für viele unvorstellbar sind: dass sich im zerstörten und ethnisch geteilten Mostar Slowenen, Serben, Bosnier und Kroaten auf der Brücke treffen, um gemeinsam ins kalte Wasser zu springen. Da muss man schon 16-mal in der Sekunde blinzeln, um das zu glauben.