piwik no script img

Archiv-Artikel

Schon fließt Blut

In Zeiten von Hightech und digitalem Overflow sind Retro-Attitüden immer verbreiteter. Und so steigt auch die Zahl der Männer, die wieder zum guten alten Rasiermesser greifen. Keine ungefährliche Angelegenheit. Zum Glück gibt es Kurse. In Hamburg zum Beispiel

von KARL HÜBNER

„Theodor Jebe Friseurbedarf“ steht außen über den Schaufenstern. Ein Traditionsunternehmen in der Hansestadt. Männer im besten Rasieralter haben sich an diesem Samstag in der Hamburger Altstädter Straße eingefunden. Die verschlossene Tür lässt die Wartenden redselig werden. „Na, auch zum Rasieren da?“, fragt ein groß gewachsener stämmiger Mann im Pullover. Relativ ungefragt erzählt er, dass er den Umgang mit dem Messer nun endlich lernen will, nachdem er das Gerät Weihnachten von seiner Mutter geschenkt bekam. Mit seinen Fleischermessern, sagt der junge Mann, der sich als gelernter Schlachter aus Neu-Wulmstorf vorstellt, würde ihm die Rasur locker von der Hand gehen, aber mit dem Rasiermesser, da käme er absolut nicht klar.

Dieses Nichtklarkommen ist es, was die acht Männer treibt, an diesem Spätnachmittag am „Rasierkurs bei Jebe“ teilzunehmen. Es sind Männer, die vielleicht auch gerne Bier aus Bügelverschlussflaschen trinken, dem alten Diafilm nachtrauern und einen VW Käfer in der Garage haben. Menschen mit Sinn für Traditionen.

Der Jebe-Geschäftsführer selbst, Henry Gosch, holt die Rasierinteressierten an der Tür ab. Es ist bereits die zweite Gruppe an diesem Nachmittag. Nein, es habe bei der ersten Runde keinerlei Verletzungen gegeben, beteuert Gosch, nachdem sich ein Teilnehmer erkundigt hat, ob man draußen habe warten müssen, damit drinnen das Blut weggewischt werden konnte.

Henry Gosch trägt einen grauen Anzug, Hemd und Krawatte, alles wirkt sehr offiziell. Er führt die Teilnehmer in das Untergeschoss, wo zwischen Regalen mit Haarkuren, Metalllockenwicklern und allerlei mehr Friseurutensilien bereits ein dreiköpfiges Empfangskomitee wartet: Eva Jebe und zwei ältere Herren, die beide graue Shirts mit der Aufschrift „Rasierkurs bei Jebe“ tragen und als Herr Adamo und Herr Saubert vorgestellt werden – beide mit fast vierzig Jahren Rasiererfahrung ausgestattet. Max Schmeling sei Stammgast im Salon von Herrn Saubert gewesen, heißt es.

Viele Worte werden nicht verloren, es soll sofort anschaulich werden. Der Schlachter, der inzwischen ein Namensschild mit der Aufschrift „H. Boehnke“ trägt, wird als Freiwilliger ermittelt. Er darf es sich vorne auf einem Stuhl bequem machen. Herr Adamo schäumt die Wange ein und zeigt, wie man den Rasierpinsel andrücken und kreisen lassen muss. Und dann hat er auch schon das Messer ausgeklappt. Die Gruppe bildet einen Halbkreis und lernt, worauf zu achten ist. „Das Messer in einem Winkel von 30 Grad anlegen! Lang durchziehen, kein kurzes Hin und Her wie mit den sonst üblichen Scherköpfen“, sagt Herr Adamo. Der Barbier bearbeitet nur die rechte Wange, schließlich soll Herr Boehnke später noch selbst Hand bei sich anlegen.

Bevor das losgehen kann, folgt eine theoretische Einführung in die Welt der Rasiermesser und -pinsel. Die Männer erfahren von Henry Gosch, dass es zum Beispiel Unterschiede bei der Dicke der Messerklingen gibt. In Europa hätten sich fünf Achtel Zoll etabliert, während in orientalischen und lateinamerikanischen Ländern sechs Achtel dominierten. „Wegen der stärkeren Barthaare der Südländer.“

Dann lenkt Gosch das Augenmerk auf die Wölbung der Klingen und spricht von halben und ganzen Hohlungen. Er spricht vom Vorteil nicht rostfreier Klingen, von der Wichtigkeit, mehrere Messer zu haben, da eine Schnittkante drei Tage zur Regeneration auf atomarer Ebene brauche, und dann kommt er zu den Pinseln. Dachshaar sei Standard, aber natürlich gebe es auch da wichtige Unterschiede. Sommerdachs, Winterdachs, helle Haare kämen vom Bauchbereich des Tieres, dunkle vom Rücken. Auch eine Kurzeinführung in Sachen Klingenschleifen am Lederriemen wird gegeben.

Aber dann ist es genug der Theorie, und die Männer nehmen Platz. Jeder hat ein Messer vor sich, einen Pinsel sowie ein Schüsselchen mit zwei Halbschalen, von denen eine mit Warmwasser, die andere mit fester Rasierseife gefüllt ist. Zwei Luftballons liegen auch bereit, an denen man die ersten Handgriffe mit dem Messer einstudieren soll. Es sind herzförmige Ballons; deren komplizierte Oberfläche bereite besser auf die Arbeitsfläche Gesicht vor, so Henry Gosch.

Die ersten Ballons platzen bereits beim Aufblasen. Die übrigen werden eingeschäumt. Herr Adamo und Herr Saubert gehen durch die Reihen und achten auf den richtigen Einsatz des Pinsels. „Richtig drücken und dann rotieren.“ Dann werden die Messer ausgeklappt. Zunächst zaghaftes Berühren der Ballons, doch schnell lernt man: Wenn der Winkel stimmt, kann man recht beherzt an der Gummihaut entlangziehen, ohne dass diese Schaden nimmt. Nur ganz vereinzeltes Platzen. Lernziel erreicht, denn das hieß: Hemmungen abbauen, ohne freilich die Vorsicht aufzugeben.

Die Ersten haben sich qualifiziert und dürfen vor einen der vier Stehtische mit den Spiegeln treten. Nun wird es ernst. Schaum anrühren, bis er die Konsistenz von Schlagsahne hat, und ihn dann im Gesicht verstreichen. Das Messer ausklappen und – 30 Grad! – beherzt durchziehen. Mit der zweiten Hand die Haut strammziehen. „Das hilft“, verrät Herr Adamo.

Die Männerhände sind nicht beherzt. Vorsichtige, allzu kurze Bewegungen. Es zieht. Tut weh. Die Haare bleiben stehen. Ob es an dem minderwertigen Messer liegt? Herr Gosch hatte darauf hingewiesen, dass der Veranstalter zum Üben nur so genannte Junior-Messer ausgelegt hat. 36,50 Euro steht auf dem Preisschild der Junior-Messer. Profis wie Herr Adamo greifen zu anderen, viel teureren Werkzeugen.

Die Erfolge der Jungbarbiere bleiben zunächst bescheiden. Auf den großflächigen Backen klappt es noch ganz gut, aber Barthaare sprießen eben auch unter der Nase, unter dem Mund und blöderweise auch am Kinn. Es kommt zu obskuren Verrenkungen. Es ist nicht leicht, den messerführenden Arm so zu positionieren, dass er die Klinge beispielsweise auch im Kehlkopfbereich im empfohlenen 30-Grad-Winkel ansetzen kann – zumal man ihn dabei nur spiegelverkehrt sieht. Der Mann mit dem Namensschild „H. Berking“, der sich extra seit drei Tagen nicht mehr rasiert hatte, flucht leise vor sich hin.

Und schon fließt auch Blut. Herr Pape etwa muss unter der Unterlippe eine falsche Bewegung gemacht haben. Die Haut verzeiht nichts. Das muss auch ein Teilnehmer aus Schwerin feststellen, der im Bereich des linken Ohrs gepatzt hat. Herr Saubert greift in eine kleine Schachtel und fingert streichholzartige Stäbchen heraus. Alaunstifte. Blutstillend.

Kaum einer bringt es am Ende auf eine erfolgreiche Komplettrasur. Aber zum Glück gibt es ja Herrn Adamo und Herrn Saubert, die die restlichen Stoppel fachmännisch beseitigen. Beeindruckt fahren sich die Teilnehmer über die Wangen. So glatt war es lange nicht. „Eine Rasur mit dem Messer hält noch am nächsten Tag“, sagt Henry Gosch und nickt bekräftigend. Herr Boehnke freilich klagt einstweilen noch über ein „wahnsinniges Brennen“ im Gesicht.

Wie viele der acht Teilnehmer am Ende wirklich zum Messer konvertieren werden, bleibt ungewiss. Manche haben an diesem Tag vielleicht auch die Existenz von Wechselklingensystemen und Elektrorasierern völlig neu schätzen gelernt. Der Schlachter will auf jeden Fall üben. Allein des Geldes wegen. Sowohl Elektrorasierer als auch Wechselklingen seien doch viel zu teuer geworden. Und Henry Gosch macht noch Mut: Wenn man es erst mal könne, dauere die Bartbearbeitung mit dem Messer nur zweieinhalb Mal so lange wie mit dem Elektrogerät. Das kann man gut finden, aber es kann auch als Gegenargument gelten. Gerade morgens, wenn häufig jede Minute zählt.

Auch Henry Gosch kann nur spekulieren, wie viele seiner Kursteilnehmer zu echten Nassrasierern werden. So viel weiß er: „Einige habe ich später schon in meinem Laden wieder gesehen, weil sie ein neues Messer, einen Lederriemen oder einfach neue Rasierseife brauchten.“ Gosch jedenfalls glaubt fest an die Zukunft des Messers. Die Rasur sei einfach viel besser. „Die Wechselklingenhersteller stellen seit 100 Jahren Klingen her“, ereifert er sich. „Doch trotz ständiger Neuentwicklungen haben sie noch nichts gefunden, was es mit dem Messer in puncto Rasurqualität aufnehmen kann.“ Das mag stimmen, aber bis man diese Qualität umsetzen kann, ist es ein weiter und mitunter auch blutiger Weg.

KARL HÜBNER, 40, lebt als freier Autor in Köln