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Archiv-Artikel

Ein ganz bestimmtes Menschenbild

Ob Dorfälteste oder Bergmannsfrau: Die Porträts der Fotografin Erna Lendvai-Dircksen prägten das kollektive Bildgedächtnis der Nazi-Zeit. Eine Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen zeigt ihre Fotos und analysiert ihre Bedeutung für das Dritte Reich – erstellt wurde sie von Studierenden

VON TANIA GREINER

Immer wieder wiederholen sich die Motive und Stilmittel: Mädchen blicken zielgerichtet in die Ferne, fein schattierte Locken umrahmen ihre Gesichter. Muskulöse Jünglinge mit Seitenscheitel und geschorenem Nackenhaar ziehen vorbei, dann wieder alte, von Falten zerfurchte Gesichter mit langen Bärten. Wie Blitze leuchten die Fotos auf einem Bildschirm auf.

Die Installation von Marcel D’Apuzzo führt mit einer Schau im Zeitraffer die Redundanz und das Prototypische im Werk der NS-Fotografin Erna Lendvai-Dircksen greifbar vor Augen. Der Beitrag des 34-jährigen Malers ist Teil der Ausstellung „Menschenbild und Volksgesicht“, die seit gestern im Museum Europäischer Kulturen zu sehen ist. Erna Lendvai-Dircksen prägte mit ihren regionalen Serienpublikationen „Das Deutsche Volksgesicht“ das kollektive Bildgedächtnis der Nazizeit. Ihre Bilder dienten fast zwei Jahre lang als Forschungsmaterial. 13 Studierende des Instituts „Kunst im Kontext“ der Universität der Künste und des „Instituts für Europäische Ethnologie“ der Humboldt-Universität haben sich an ihrem Beispiel in einem gemeinsamen Studienprojekt mit der Bedeutung von fotografischen Porträts im Dritten Reich beschäftigt.

Die Ergebnisse ihrer Forschungen werden in sechs Themeninseln präsentiert. Arbeiten von vier Kunststudenten, die mit gegenwärtigen Blicken die Vielfalt von Menschenbildern aufgreifen, ergänzen sie. Die Absurdität der Suche nach einem „Volksgesicht“, die sich Porträtfotografen in den 30er- und 40er-Jahren zur Aufgabe gemacht hatten, soll darin aufgezeigt werden.

Auch Erna Lendvai-Dircksen (1886–1962) benutzte ihr fotografisches Handwerk als Ausdrucksmittel ihrer Weltanschauung – wie auch Heinrich Hoffmann oder Paul Wolff, namentlich bekanntere NS-Fotografen. Schon in der Weimarer Republik hatte das menschliche Gesicht hohe Aufmerksamkeit erlangt. Der Glaube hatte sich verstärkt, dass sich darin Innenleben und Umwelt des Menschen spiegelten. Erna Lendvai-Dircksen erklärte diese Auffassung zu ihrer Kunstform. Nachdem sie sich zunächst mit Tanzstudien, Aktaufnahmen und Porträts von Prominenten der Weimarer Republik einen Namen machte, trat sie ab 1932 mit ihrem – wie sie es selbst nannte – Lebenswerk in die Öffentlichkeit: der fotografischen Enzyklopädie des „deutschen Volksgesichts“. Nach 1945 wurde der Titel des Bandes in ein „deutsches Menschenbild“ umbenannt.

Überall im Deutschen Reich nahm die Fotografin Frauen-, Männer- und Kindergesichter auf, ausgerüstet mit einem mobilen, aber professionellen Fotostudio. Mit etwa 20 Bildbänden, die eine Gesamtauflage von 250.000 Exemplaren erreichten, wurden ihre Bilder zu den meistverkauften im Nationalsozialismus. Sogar als Sammelbildchen für Zigarettenpäckchen hielten ihre mythisch konstruierten „Volksgesichter“ her.

„Erna Lendvai-Dircksen gab zwar vor, das deutsche Volksgesicht real dokumentieren zu wollen“, sagt Sarah Jost, Studentin der Europäischen Ethnologie. „Alles war aber perfekt durch gezielten Einsatz von Licht und Kameraperspektive inszeniert.“ Es sei Lendvai-Dircksen nicht um die Dokumentation sozialer Lebensverhältnisse gegangen. Vielmehr wurde das Bild der Deutschen auf die bäuerliche Lebenswelt reduziert. „Alles Städtische, das in den 20er-Jahren als modern gegolten hatte, wurde ausgeblendet“, fügt Jost hinzu.

Lange haben die Studierenden, bevor es im vergangenen Semester an die Ausstellungsplanung ging, darüber diskutiert, ob es überhaupt gerechtfertigt sei, die Bilder aus ihrem historischen Kontext zu lösen und heute auszustellen. Letztlich haben sie sich dafür entschieden, aber nur unter der Bedingung, dass die damalige Rezeptionssituation der Betrachter mit berücksichtigt werde. „Die Menschen hatten immer, bewusst oder auch unbewusst, das Gegenbild eines jüdischen Gesichts mit Hakennase im Kopf“, sagt Ethnologiestudentin Jost.

An dieser Stelle kann man der Ausstellung eine Lücke vorwerfen, klammert sie ebendiese Bilder leider aus. Bestechend ist aber die teilweise sehr indivuelle Auseinandersetzung der Projektbeteiligten mit dem fotografischen Werk der NS-Fotografin, die Besuchern zahlreiche Zugänge zum Thema anbietet.

Bis zum 30. Oktober im Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 25 (Dahlem). Eintritt: 4 Euro, erm. 2 Euro.