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Zwei Frauen mit großem Wumms

Virtuos macht die 80-jährige Pianistin Martha Argerich ihr Publikum glücklich. Rebecca Saunders findet Klänge für das 21. Jahrhundert auf dem Musikfest Berlin

Von Katharina Granzin

I’ve never seen an orchestra with so many bass players!“, sagt ein Herr mit nordamerikanischem Akzent beim Hinausgehen zu seiner Begleiterin. „And, like: twelve cellos?“ In seiner Stimme klingt etwas wie widerwillige Anerkennung für diese europäische Extravaganz mit. Die Antwort der Dame ist nicht zu verstehen; vielleicht entgegnet sie ja, dass auch amerikanische Konzerthäuser durchaus in der Lage sein dürften, einen großen romantischen Orchesterapparat aufzufahren. Und heute Abend hat es immerhin Schumann gegeben. Den ganzen Abend lang.

Wie jedes Jahr haben die Staatskapelle und Daniel Barenboim eines ihrer Abonnementkonzerte zum Musikfest in die Philharmonie verlegt, deren Podium tatsächlich gerade so eben groß genug zu sein scheint für das mitgebrachte Streicherheer. Die ersten beiden von Robert Schumanns vier Symphonien werden gegeben; und schon die mit großem Wumms ausgeführte Schlusskadenz des ersten Satzes reißt etliche Menschen im Publikum so mit, dass sie mit spontanem Applaus darauf antworten. Da die meisten anderen nicht mitmachen, hören sie zwar gleich wieder auf und versuchen im Folgenden nie wieder zwischen den Sätzen zu klatschen; aber für den Rest des Abends klingt eine merkwürdige Leere nach, wenn wieder einmal ein mit großer Geste ausgeführtes Finale auf Stille stößt.

Warum eigentlich ist es im Konzertbetrieb immer noch so verboten, auf eine Musik, die derart auf die Emotionen zielt, auch emotional zu reagieren? (Auch der hoch reflektierte Robert Schumann, könnte er uns zuhören, würde das vermutlich nicht verstehen.)

Alle aufgesparten Affekte scheinen sich dann vor der Pause in den stehenden Ovationen für Martha Argerich zu entladen, die nach der ersten Symphonie zügig das Podium betreten, lässig ihre Gesichtsmaske irgendwo auf den Flügel geworfen, die graue Mähne kurz zurechtgeschüttelt und dann umstandslos begonnen hatte, Schumanns a-Moll-Klavierkonzert aus den Tasten zu zaubern.

Es ist tatsächlich ein wenig so, als käme die Musik von irgendwoher zu ihr, durch sie hindurch zu uns

Es ist tatsächlich ein wenig so, als käme die Musik von irgendwoher zu ihr, durch sie hindurch zu uns, und oft scheint es, als falle ihr erst in genau diesem Moment ein, dass hier an dieser einen Stelle ein Akzent anders gesetzt werden könnte, ach, oder dass dort im Bass doch eine melodische Linie liegt, die man mal mit breiterem Strich nachzeichnen sollte; und immer noch ist sie virtuos auf eine Weise, die nicht die Virtuosität als solche ausstellt, sondern stets im Dienst der Musik steht.

Das Orchester als Dialogpartner klingt im direkten Vergleich manchmal fast wie ein schüchterner Musterschüler. Kurz, Martha Argerich ist eine Wucht. Und nicht nur, dass sie mit ihren achtzig Jahren noch Klavier spielt wie eine Urgewalt; sie lässt es sich auch nicht nehmen, auf hochhackigen Schuhen aufs Podium zu stöckeln.

Viel Wumms im selben Saal auch am nächsten Abend, aber vor deutlich weniger Publikum, denn es gibt Neue Musik. Es spielt das Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Rebecca Saunders steht auf dem Programm, zusammen mit dem nicht mehr ganz so neuen, 1945 verstorbenen Anton Webern. Dessen zwölftönige Reihenkompositionen, die für den Abend gleichsam eine Art intellektuelles Netz um das traditionelle abendländische Tonvokabular herum bilden, werden umrahmt von zwei Saunders-Werken, die weit über die tonalen Experimente der Kollegen aus dem frühen 20. Jahrhundert hinausgehen – oder diese mit anderen Mitteln fortschreiben.

Saunders ist eine Klangsucherin und Klangforscherin, „Töne“ als solche bilden bei ihr lediglich eine Klangqualität unter vielen ab. In ihrem Stück „void“ für zwei Schlagzeuge und Orchester besetzen die Schlagzeuger Dirk Roth­brust und Christian Dierstein mit zwei außergewöhnlichen Klangapparaten beide Seiten der vorderen Bühne. Eine lange Liste im Programmheft gibt an, welche Percussioninstrumente jeweils enthalten sind. Einträge wie „2 große Auto-Spiralfedern ohne Kunststoffbeschichtung“, „kleine, interessant klingende Metallplatte“ oder „2 Stücke flaches Holz – auf den Paukenfellen liegend“ geben einen Eindruck davon, wie viele Klangexperimente der Komposition, die in enger Zusammenarbeit mit den beiden Schlagzeugern entstand, vorausgegangen sein müssen.

„void“ „handelt“, falls man das so sagen kann, denn auch von dieser Suche nach dem Klang, oder vielleicht von der Suche nach „Musik“, von einem Ziel. Einzelne Töne, Klänge, Geräusche ziehen sich durch den Raum, schichten sich, lösen sich ab, wabern, suchen ein tonales Zentrum, hin und wieder muss eine Spannung entladen werden.

Und auch Saunders’ Stück „to an utterance“ für Klavier und Orchester findet erst ganz am Schluss Erlösung in „echten“ Tönen. Zuvor arbeitet sich der Pianist Nicolas Hodges virtuos durch Clusterketten, die zwar ungefähre Tonhöhen markieren, sich klarer Tonalität aber verweigern. Der Konzertflügel, statt herrlich zu singen, klingt an diesem Abend wie ein ungnädig vor sich hin schimpfender Choleriker. Auch das: unglaublich.

Mehr neue Töne: Samstag um 17 und 21 Uhr im Kammermusiksaal mit dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard (Sweelinck, Kurtág, Andre). Und um 20 Uhr spielen die Berliner Philharmoniker im großen Saal u. a. eine Uraufführung: Olga Neuwirths „Keyframes for a Hippogriff“. Das Musikfest läuft noch bis Mo., 20. 9.

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