DAS CDU-WIR UND DIE SOZIALDEMOKRATEN VOM ROSENTHALER PLATZ
: When we all give the power

VON ULRICH GUTMAIR

Für mich begann der Wahlkampf eines schönen Sonntags auf dem Weg zur Pfaueninsel. Die Kleinfamilie war temporär durch Opa und Oma vergrößert worden, und nun gondelte man gemütlich mit dem Auto gen Südosten. Wir bogen beinahe schon Richtung Liebermann-Villa ab, als ich sie sah. Angela Merkel, mit irgendeiner redundanten und längst vergessenen Botschaft auf einem Plakat. Da mein Blick im Laufe der Jahre das Verfahren optimiert hat, großformatige Buchstaben, also Überschriften, Werbebotschaften etc., auszublenden und sofort das Kleingedruckte nach relevanten Daten zu scannen, dauerte es aber nur Millisekunden, bis ich den Claim links unten am Plakat erfasste und staunte. „Wir haben die Kraft“, stand da, darunter Schwarzrotgold.

Die CDU hat dem Wähler, also in diesem Fall mir, derzeit nicht so viel zu sagen. Umso mehr ist ihre Agentur für diesen Claim zu beglückwünschen, der den Betrachter nicht mehr loslässt. Wir haben die Kraft! Sofort fangen die neuronalen Netze an, wie wild zu funken. „I’ve got the power“, singt das Hirn und springt gleich weiter zu Opus’ „Life is live“ in der Fassung von Laibach: „Wann immer wir Kraft geben / Geben wir das Beste.“

Wir sind nicht allein

Aus den Luftschutzbunkern sind wir gekrochen, haben in die Hände gespuckt, da wird so eine Finanzkrise uns doch nicht umhauen, oder? Wir haben die Kraft. Das klingt nach Zuversicht und Zukunft, Vitalität und Gemeinschaft. Aber irgendwie auch nach einem Klassiker von Ton Steine Scherben, in dem es hieß: „Wir sind geboren, um frei zu sein / Wir sind 60 Millionen, wir sind nicht allein.“

Nachdem das linke, progressive „Wir“ der Sechziger spätestens im Zuge der sogenannten Verwerfungen von 1989 verschütt gegangen war und fortan in friedlichem Dornröschenschlaf geschlummert hatte, küsste es das neubürgerliche Avantgardeblatt Jetzt wach. Und weil es so schön ist, das „Wir“ wieder zu haben, ist im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung seither nur noch von „uns“ die Rede. Gern im Verbund mit Superlativen, die „uns“ den Konsum irgendwelcher Kulturprodukte schmackhaft machen sollen.

Nun hat auch die Union das neue „Wir“ entdeckt, was eine durchaus politische Dimension hat. Denn dieses appellative Konstrukt ist keine Abstraktion wie „das Volk“ oder „das Vaterland“, die in der Realität durch nichts gedeckt ist. Das „Wir“ besitzt integrative Kraft, weil es alle betrifft, die sich angesprochen fühlen, also auch Yusuf Bayrak. Trotzdem hat sich Bayrak dazu entschlossen, als Parteiloser für den Bundestag zu kandidieren.

Die Besten unter euch

Bayrak entdeckte ich in Neukölln. Staatsmännisch blickt der Mann von seinem Plakat in die Ferne. Über seinem Porträt hat der Kandidat einen Spruch abdrucken lassen, der auf gut 5.000 Jahren Monotheismus gründet: „Die besten unter euch sind diejenigen, die ihren Mitmenschen behilflich sind.“ Auch in Bayraks Kampagne steht das „Wir“ ganz oben auf der Agenda. Der Kaufmann will das Zugehörigkeitsgefühl von Migranten erhöhen und gar dafür sorgen, dass alle Neuköllner glücklich werden: „Wir müssen alle Kräfte bündeln.“

Das denkt wohl auch die SPD, konnte sich aber nur zu einer müden Aufforderung durchringen: „Anpacken. Für unser Land.“ Was das Wahlkampfmotto an Schlagkräftigkeit vermissen lässt, machen die Sozialdemokraten meines Heimatbezirks Mitte aber durch persönlichen Einsatz wett. Ich traf sie an einem Freitagabend um elf inmitten der üblichen Touristen, Ausgehwilligen und Bohemiens am Rosenthaler Platz. Aus einem Gitarrenverstärker dröhnte Pop, ein Beamer warf Wahlkampfslogans auf eine Leinwand. Mitten drin saß lässig Kandidatin Dr. Eva Högl auf einem Klappstuhl.

Eine der smarten Blondinen aus Högls Nachtwahlkampfteam sprach mich an. Ich klagte, mich bisher schlecht über die Programme der Parteien informiert zu fühlen. Kein Problem, sagte die junge Frau mit dem Hund an der Leine und drückte mir die Kurzfassung des Regierungsprogramms der SPD in die Hand. Gute Sache, so ein Programm. Denn die Frage ist am Ende nicht, wer oder was „wir“ sind, die kann ich ganz gut selbst beantworten. Die Frage ist, was „wir“ von der Zukunft wollen.