: „Controller sind was anderes als Verwalter“
Mittelschicht Ehedem ein Hort der Stabilität, gerät die Mittelschicht immer mehr in die Prekarität und ist von Verlustängsten geplagt, meint der Hamburger Soziologe Berthold Vogel
Geboren 1963, Projektleiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Schwerpunkte: Politische Soziologie sozialer Ungleichheit, Wandel der Arbeitswelt, öffentliche Dienste und Wohlfahrtsstaat.
taz: Herr Vogel, ist die Rede vom sozialen Absturz und vom Schrumpfen der Mittelschicht Panikmache oder Realität?
Berthold Vogel: Wir beobachten eine stärkere Spaltung der Mittelschicht. In den klassischen Bereichen der Facharbeiter gibt es immer mehr Leiharbeit und befristete Beschäftigung, und auch die Angestelltenverhältnisse im öffentlichen Dienst wandeln sich.
Inwiefern?
Der öffentliche Dienst war früher ein Stabilitätszentrum, was berufliche Sicherheiten und Karriereerwartungen betrifft. Doch nun entwickelt er sich zu einem Zentrum der Prekarität, was Entlohnung und befristete Verträge betrifft. Der öffentliche Dienst hat die höchste Befristungsquote. Es gibt dort Minijobs, Ein-Euro-Jobs und Leiharbeit.
Aber nur ein Teil der Beschäftigten arbeitet im öffentlichen Dienst.
Der Bereich prägt aber die ganze Arbeitsgesellschaft. Studien zeigen, wie sehr die Industrie in den Beschäftigungsmodellen der 1960er- und 1970er-Jahre tarifliche Sicherheiten übernahm, wie sie durch den öffentlichen Dienst vorgegeben waren. Vor Jahren haben wir eine Untersuchung gemacht über Leiharbeiter bei DaimlerChrysler. Leiharbeiter waren damals noch ein besonderes Phänomen. Diese Daimler-Welt, das waren eigentlich alles Industriebeamte, die dort gearbeitet haben.
Kleine Selbständige, Künstler und Kreative hatten immer schon mit wirtschaftlichen Unsicherheiten zu kämpfen.
Das stimmt. Dazu zählte auch der ganze Bereich des Handwerks sowie die kleinen Selbständigen im Einzelhandel. Aber wenn wir heute über die Verunsicherung der Mittelschichtmilieus reden, dann sprechen wir über die ehemals stabilen Facharbeiter- und Angestelltenmilieus. Die geraten jetzt unter Druck, auch durch den Abbau von Sozialleistungen, die früher den Status sicherten.
Gewöhnt man sich an größere Unsicherheit?
Sicher. Die Anpassungsfähigkeit des Menschen an veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen ist relativ groß. Aber das Bedürfnis nach Sicherheit haben nicht nur Melancholiker, die alten Zeiten nachtrauern, und ist nicht nur eine Frage der Gewohnheit. Menschen verzichten auf Lohn, wenn dadurch ihre Arbeitsstelle sicherer wird. Auch die Jüngeren möchten in ein Tätigkeitsfeld, das eine gewisse biografische Planbarkeit bietet, auch für die Familiengründung. Doch Sicherheit ist zum knappen Gut geworden.
Bietet der Wandel Möglichkeiten für neue Berufsfelder?
Ja. In der Mitte der Gesellschaft, wie etwa im öffentlichen Dienst, treffen wir mehr und mehr Controller, Coaches, Berater oder Mediatoren. Damit entstehen Berufsfelder, von denen neue Gruppen profitieren – aber es sind eben nicht die alten Gruppen. Controller sind etwas anderes als das klassische Verwaltungspersonal. Das hat Angst, Status und Position zu verlieren.
Lässt sich die Mittelschicht in die politische Verantwortung zwingen?
Das ist schwierig, denn die Mittelschicht ist ambivalent. Einerseits profitiert sie am meisten durch steuerlich finanzierte Leistungen, etwa durch die kostenlose Bildung. Aber sie will andererseits nicht so gerne dafür aufkommen. Es wäre beispielsweise eine Kunst der Politik, den Leuten klarzumachen, dass Steuern nicht nur eine Last sind, sondern Zeichen der Mitverantwortung. Aber die Politik achtet im Wahlkampf nur darauf, die Mittelschichtmilieus möglichst nicht zu irritieren durch neue Zumutungen. Der politische Mut zum Konflikt fehlt.
INTERVIEW: BARBARA DRIBBUSCH
■ Berthold Vogel: „Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen“. Hamburger Edition 2009. 348 Seiten, 25 €