: Laissez-faire im Scherbenviertel
RUNDREISE Wie sieht die Wirklichkeit jenseits der Politikwelt aus? Die Reise führt dieses Mal in den Süden – in das Migrantenviertel Augsburg-Oberhausen
VON WALTRAUD SCHWAB
Augsburg hat sein „Scherbenviertel“ – Oberhausen heißt es. Weil dieses Viertel hässlich ist, strahlt der Rest von Augsburg in schönem Glanz. Der Stadtteil ist die dritte Station auf der Reise in alle vier Himmelsrichtungen, auf der die Befindlichkeit der Menschen so kurz vor der Wahl erkundet wird.
Das mit der Hässlichkeit, das lassen die Bewohner des größten Bezirks von Augsburg nicht gelten. „Bloß weil hier viele Türken leben, soll Oberhausen hässlich sein“, entrüstet sich der türkische Frisör. Mit gegeltem Haar steht er vor seinem Laden auf der Ulmer Straße. „Für mich ist das hier schön.“ Der Grauhaarige, der neben ihm steht und Prospekte der S-Klasse unterm Arm hat, verteidigt Oberhausen auch. Die Mercedesprospekte, die sind sein Bilderbuch. Leisten kann er sich das nicht. Er zeigt auf seinen Ford.
Wählen dürfen die beiden nicht, auch nicht der Gemüsehändler an der Ecke. Keine deutschen Pässe. Der Gemüsehändler würde, könnte er doch wählen, SPD oder Linke ankreuzen. „Merkel hat alles kaputtgemacht“, schimpft er. 13 Jahre hat er seinen Laden, und die Geschäfte gehen schlecht. Dann rufen sich die Türken über die Straße „Wie geht’s dir“ zu. „Guad, guad“, sagen sie auf Bayrisch und wechseln wieder ins Türkische.
Die Ulmer Straße ist die Flaniermeile Oberhausens. Und was für eine. Es geht vorbei an Nagel- und Tätowierstudios, Döner-Imbissen, Handyläden, Frisören und Brautmoden. Dazwischen ein, zwei geschlossene Biergärten, Apotheken und „Charly Bräu“, eine alte Bierbrauerei mit Ausschank. Der Wirt dort ist auch erbost. 40 Prozent Einbußen.
„Die Leute haben kein Geld.“ Für ganz Augsburg, drittgrößte bayrische Stadt, mag das nicht gelten. Für Oberhausen schon. Fürs Auge gibt es auf der Ulmer Straße nichts. Keine Eisdielen oder Cafés, noch nicht mal Blumen. Ausfallstraßenarchitektur, Vorstadtästhetik dominiert. Die Häuser wirken verstaubt in der Sonne. Mal hellbraun, mal gelb, meistens grau. Dazwischen mitunter ein Hoftor, ein Stück Gartenzaun, hinter dem Mülltonnen stehen, und parkende Autos. Bäume gibt es keine. Die Straße strahlt Laissez-faire aus, das an Gleichgültigkeit grenzt. Für den Rest des Viertels gilt das auch.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist nichtdeutscher Herkunft. Jahrzehntelang hat sich die Augsburger Verwaltung wenig um das Scherbenviertel geschert. Erst in den 90er-Jahren, als die NPD starken Zulauf bei den Alteingesessenen bekam, rückte Oberhausen in den Fokus.
„Die meisten Leute hier verstehen nicht, dass sie Politik mit gestalten können“, sagt Cemal Bozoglu. Er wurde 2002 der erste türkischstämmige Abgeordnete im Augsburger Stadtrat. Seinen Computerladen hat er in der Donauwörther Straße. Die ist breiter als die Ulmer. Die Häuser, Firmen, Tankstellen größer. Fragt man dort nach der Wahl, kommt immer die Antwort: „Um Leute wie uns geht es nicht.“ In Oberhausen überlässt man die Leute sich selbst. Eine gute Voraussetzung wäre das für Subkultur und Alternativszene, meint Bozoglu, „allein es passiert nicht“.
Dafür passiert Anderes: Der pensionierte Italiener, Gastarbeiter früher, der südlich der Ulmer Straße sein Haus hat, hat keine Trennmauer mehr zum deutschen Nachbarn. Jetzt feiern sie ihre Feste gemeinsam im Hof. „Oberhausen ist schön“, sagt er. Die 25-jährige Pädagogikstudentin wiederum, die in der Nähe wohnt, geht bei ihren jesidischen Nachbarn aus dem Irak ein und aus. Man trifft sie mit drei der sieben Kinder. Sie versucht, was sie kann, um diese zu unterstützen. „Da werden so viel Chancen vertan, weil man die Kinder erst fördert, wenn sie in die Schule kommen.“ Die junge Frau lässt sich von der ungerechten Wirklichkeit gern herausfordern. Deshalb lebe sie im Scherbenviertel. Ihre Freunde finden sie zu pessimistisch.
Augsburg-Oberhausen hat kein architektonisches, kein kulturelles Zentrum. Nur den Bahnhofsplatz. Eine heruntergekommene Piste mit ein paar Bäumen und Bänken. Dealer und Süchtige hängen da rum. Ein Mann, der behauptet, seit 14 Jahren Polizist zu sein, sitzt auch dort. Christ sei er. Mit Kreuz um den Hals. Deutsch ist nicht seine Muttersprache – obwohl er es gut beherrscht. Mehr gibt er nicht preis. Wie ein Falke scannt er die Szene. „Was zur Wahl wollen Sie wissen?“, fragt er und deutet auf ein Plakat: „Vaterland, Muttersprache, Kinderglück“ steht drauf. „Nazisprüche, Phrasen, die bei primitiven Leuten ankommen“, schimpft er. „Für die da“, er zeigt auf die Alkoholiker, „hat die NPD das aufgehängt. Für jede billige Droge werden diese Leute sogar zu tibetischen Nationalkämpfern.“
Mittlerweile verprügelt ein Mann eine Frau. Der Polizist greift zum Handy. Das Plakat der MLPD, die den Platz auch vollgehängt hat, passt: „Für die Befreiung der Frau“ steht da. Die anderen Parteien aber werben mit Köpfen. Als hätten sie Oberhausen nicht verstanden. Auch die Bundesgrünen nicht. „Claudia für Bavaria“ fordern sie.
Nächste Woche geht die Reise in den Osten, nach Eisenhüttenstadt