piwik no script img

Archiv-Artikel

Datensammler hinter Weinreben

Der Gesuchte loggte sich stets zur gleichen Zeit ins Netz ein und machte den gleichen Tippfehler

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Nach Terroranschlägen wie jetzt in London ist der Reflex stets der gleiche: härtere Gesetze, engere Zusammenarbeit der Ermittlungsdienste und vor allem mehr europäische Kooperation werden gefordert. Während der letzte Europol-Direktor Jürgen Storbeck nach mehr Befugnissen für seine Behörde verlangte und die Bunkermentalität der Nationalstaaten kritisierte, gibt sich der Nachfolger genügsamer.

Max-Peter Ratzel ist noch keine drei Monate im Amt. Wie hartnäckig die Klischees über seine Behörde in den Köpfen festsitzen, hat er aber schon erfahren. Das geht mit Äußerlichkeiten los. Was sich hinter den efeubewachsenen Mauern verberge, wird er immer gefragt. „Das ist kein Efeu, sondern wilder Wein“, korrigiert der Saarländer. „Das macht einen großen Unterschied.“

Viel gravierender aber sind die Missverständnisse über das, was sich innerhalb der roten Ziegelmauern am Raamweg im holländischen Den Haag abspielt. „Allein der Name Europol ist kommunikationsmäßig gesehen eine Katastrophe“, seufzt Pressesprecher Rainer Wenning. Hier sitzt nicht, wie der Name der Behörde suggeriert, die Europäische Polizeitruppe, die bei einem Ernstfall wie am Donnerstag in London zum operativen Einsatz ausrücken könnte.

„Festnahmen, Sicherstellungen, Beschlagnahmen, Gerichtsbeschlüsse – dafür fehlt Europol die gesetzliche Grundlage, diese Befugnisse fordere ich auch gar nicht“, sagt Ratzel. Der Mehrwert seiner Behörde liege darin, dass Erkenntnisse von einem anderen Blickwinkel aus bewertet würden. Das Amt mit seinen knapp fünfhundert Mitarbeitern bildet ein Scharnier, wo Informationen und Daten aus der gesamten Union zusammenlaufen und weitergeleitet werden.

Analyse-Experten für unterschiedliche Bereiche grenzübergreifender Kriminalität klopfen die gesammelten Erkenntnisse ab. Sie suchen nach Mustern, Gesetzmäßigkeiten, nach Parallelen zu Fällen aus anderen Staaten. Wo es sie gibt, stellen sie Kontakte zwischen den Ermittlern vor Ort her.

Zu laufenden Verfahren äußert sich Europol nicht öffentlich. Doch die Drähte zwischen London und Den Haag laufen derzeit wohl heiß. Europol hat eine Bombendatenbank. Die gesammelten Erkenntnisse über Sprengstoffmischungen und Transportwege können mit den in London gefundenen Spuren verglichen werden. Wahrscheinlich werden auch Fachleute aus Den Haag dort als Berater angefordert.

Seit Ende 2001 ist eine Anti-Terror-Task-Force bei Europol eingegliedert, in die jeder Mitgliedsstaat Beamte seiner Wahl entsenden kann. So ist eine gemischte Abteilung aus Polizeibeamten, Zoll, Grenzschutz und Sicherheitsdiensten entstanden, was wiederum die Durchlässigkeit für Informationen verbessert. „Wenn die Task-Force frühzeitig Hinweise auf mögliche Anschläge hat, wenn sich zum Beispiel bestimmte Personen an einem Ort treffen, kann der betroffene Mitgliedsstaat gewarnt werden“, sagt Ratzel. Er habe den Informationsaustausch zwischen Polizei und Sicherheitsdiensten schon in seiner Zeit beim BKA verbessern wollen, doch erst nach dem 11. September sei die Bereitschaft dazu deutlich gestiegen. „Wir können derzeit mehr als 20 Verfahren in den Mitgliedsstaaten aktiv unterstützen. Vor zwei Jahren wäre noch nicht denkbar gewesen, dass wir Daten aus laufenden Ermittlungen erhalten.“

Mit einem gängigen Klischee räumt der Chef auf. Nirgendwo in Europa gebe es Hinweise, dass organisierte Kriminalität und Terrorismus strukturell zusammenhängen. „Wenn Terroristen gefälschte Papiere brauchen oder Geld gewaschen haben wollen, kennen sie die ‚Firmen‘. Aber Terrorismus wird nicht systematisch durch Rauschgift, Schmuggel oder Fälschung finanziert.“

Um dreißig Prozent hat sich der Datenfluss zwischen Den Haag und den Mitgliedsstaaten von 2003 bis 2004 erhöht. Der gesetzliche Rahmen musste dafür gar nicht erweitert werden. Wesentlich war vielmehr, dass die Behörde bei den Ermittlungsbeamten in den Mitgliedsstaaten bekannter geworden ist und dass Vorbehalte gegenüber dem unbekannten Euro-Moloch abgebaut werden konnten. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die Europol-Verbindungsleute in den Mitgliedsstaaten und die nationalen Verbindungsbüros im Europol-Gebäude in Den Haag.

Vor allem die neuen Mitgliedsländer in Osteuropa beziehen Den Haag ganz selbstverständlich in ihre Ermittlungsarbeit ein, schon weil die nationalen Ressourcen nicht ausreichen. Im Büro des estnischen Verbindungsbeamten Peeter Palo laufen die Daten aus der heimatlichen Verbrecherkartei direkt auf dem Laptop auf. „Die meisten alten Mitgliedsländer haben diese Möglichkeit nicht“, sagt er stolz.

Unermüdlich sind die Europol-Mitarbeiter bei den Kollegen in den Mitgliedsländern unterwegs oder laden zu Seminaren nach den Haag ein. Diese Form der „Bewusstseinsbildung“ macht einen erstaunlich großen Teil ihrer Arbeit aus. Denn nur wenn die Ermittler vor Ort bereitwillig Erkenntnisse in den Europol-Apparat einfüttern, können sie dort analysiert, verglichen und mit Mehrwert zurückgeleitet werden.

Sensible Daten wie personenbezogene Details sind dafür oft gar nicht notwendig. Der Zugang zu Daten ist nach einem ausgeklügelten System abgestuft. Jeder Beamte erhält nur die Informationen, die er für seine Arbeit braucht. Die Kontrollbehörde in Brüssel stellt Europol in puncto Datenschutz ein gutes Zeugnis aus. „Es funktioniert besser als in den meisten Mitgliedsstaaten“, sagt John Wallis vom zuständigen Generalsekretariat.

Hundert Europol-Beamte befassen sich ausschließlich mit der Analyse, mit typischen Täterprofilen, Schleuserwegen oder Fälscherhandschriften. Analyst Antonio Saccone aus Rom nennt als Beispiel Ermittlungen über einen Pädophilen-Ring. Der Anbieter der Kinderpornos wechselte ständig das Land, verwendete aber immer den gleichen Aliasnamen, loggte sich um die gleiche Uhrzeit ein und machte stets denselben charakteristischen Tippfehler. Auf solche Parallelen stößt ein Ermittler, bei dem die Fäden aus mehreren Ländern zusammenlaufen. Den Namen von Verdächtigen braucht er dafür nie zu erfahren.

Die Zusammenarbeit mit den USA, sagt Max-Peter Ratzel, sei nach dem 11. September deutlich besser geworden. Zwei Europol-Verbindungsbeamte arbeiten in Washington und vertreten auch die Mitgliedsstaaten, die keine eigenen Verbindungsbeamten dort haben. Ab September sollen zwei US-Verbindungsleute nach Den Haag kommen, vom FBI und vom Secret Service. Im Frühjahr wird wohl ein dritter Beamter der ATF (alcohol, tobacco and firearms) abgestellt. Das sei für die Terrorbekämpfung wichtig, da Datenbanken über Waffen und Sprengstoff abgeglichen werden könnten.

„Je enger Sie die Leute körperlich zusammenbringen, desto mehr Informationen können Sie austauschen und desto mehr erfahren Sie von der jeweils anderen Arbeitsweise. Dann kommen Sie auf ganz neue Fragestellungen. Es entsteht auch Vertrauen, wenn man mal abends ein Bier trinken geht und sich über private Dinge austauscht“, ist Ratzel überzeugt.

Viel Vertrauen ist allerdings dadurch verspielt worden, dass sich die Mitgliedsstaaten Monate lang nicht auf einen Nachfolger für Jürgen Storbeck einigen konnten. Natürlich habe das Prestige der Behörde darunter gelitten, räumen Mitarbeiter ein. Statt bei jeder Krise nach strengeren Gesetzen zu rufen, sollten die nationalen Staaten einfach die guten Vorsätze einhalten, ihre Informationen nicht für sich zu behalten.