Kein schönes Land

In seiner Dokumentation „Land“ zeigt der Hamburger Filmemacher Timo Grosspietsch das agrarische Norddeutschland als Industriegebiet

Wo es partout nicht anders geht, arbeiten doch noch Menschen: Eiersammeln im Putenstall Foto: Realfiction Film

Von Wilfried Hippen

Die Welt erwacht, ein Lichtstrahl erhellt das dunkle Land: Die Sonne geht auf. Mit dieser Einstellung beginnt die Dokumentation „Land“. Das heißt – damit scheint sie zu beginnen. Wenn nämlich das Licht nicht so mehr blendet, wenn aus den Schemen erkennbare Umrisse werden, zeigt sich: Die Sonne ist tatsächlich der Scheinwerfer eines großen Traktors, der einen nächtlichen Acker erhellt. Das Land, das Timo Grosspietsch zeigt, ist vom Menschen gemacht, und das macht er von Anfang an deutlich.

Jede Natürlichkeit ist ver­baut, statt organischer Formen regieren die symmetrischen Linien riesiger Felder, aber auch von Kühlhäusern, Hallen und Ställen, in denen Gemüse, Obst, Eier und Fleisch produziert werden. Weil diese Agrarindustrie auch noch so weit wie möglich automatisiert ist, sehen wir die ersten Minuten hindurch kaum mal einen Menschen: Zierpflanzen werden auf einer computergesteuerten Produktionsstraße eingetopft, Transportfahrzeuge machen sich fahrerlos auf den Weg, Tiefkühl-Pommes-frites füllt eine Maschine in die Tüten.

Bilder statt Worte

Grosspietsch, Regisseur und Kameramann, zeigt dieses durchindustrialisierte Land in langen, meist ungeschnittenen Einstellungen. Er erklärt nichts, es gibt keinen Text und keine Zwischentitel. Noch nicht einmal im Abspann liefert er etwa Informationen zu seinen Drehorten; dazu gehören etwa eine Hühnermasthalle in Mecklenburg-Vorpommern und eine riesige Pflanzenbewässerungsanlage in Niedersachsen. Umso mehr überzeugt „Land“ durch Bilder, wie sie die wenigsten von uns schon gesehen haben dürften. Die Steadycam geht minutenlang vor einer Arbeiterin her, die in einem riesigen Putenstall Eier einsammelt, mit einer Drohne folgte Grosspietsch einem Mähdrescher, und einen der wenigen Schwenks überhaupt macht er, wenn er auf einem Rangierbahnhof fahrenden Waggons folgt.

Bei einigen großen Agrarbetrieben in Norddeutschland bat der Hamburger Filmemacher um Drehgenehmigungen und war selbst überrascht darüber, dass er kaum Absagen bekam. Es gab ein paar Einschränkungen, so wurde kein Tier vor laufender Kamera geschlachtet. Aber gerade diese Leerstellen sind effektiv: Da werden in einer Einstellung Schweine per Schubvorrichtung in einen Käfig gedrängt – und bald darauf am Haken hängende Schweine in Hälften geschnitten.

In diesem System müssen die Menschen genauso gut funktionieren wie die Maschinen. Grosspietsch zeigt Erntehelfer beim Spargelstechen, Frauen, die mit der immer gleichen Handbewegung das Geschlecht von Küken bestimmen, Männer, die in einem Kühlraum Eier durchleuchten. Und er zeigt, wie die Menschen diese monotone Arbeit ertragen können: Zur Erholung tanzen sie auf einem Schützenfest, ein paar Männer kegeln, ein paar Frauen haben sich als Hexen verkleidet und springen nachts am Brocken im Kreis herum. Aber auch hier ist nichts von ländlicher Idylle zu spüren, von der Gemütlichkeit fernab hektischer Städte. Grosspietschs Blick ist nüchtern, er romantisiert nie. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und zeigt, wie die Menschen das Verschwinden der Natur durch künstliche Sehnsuchtsorte zu kompensieren versuchen. So filmte er etwa auf einer Indoor-Skipiste oder in einer pseudotropischen Freizeithalle, die frappierend an die simulierte Welt im Film „Truman Show“ erinnert.

Kommentierende Musik

Ist Gott Bauer? Die aufgehende Sonne jedenfalls ist nur ein Traktor- Scheinwerfer Foto: Real­fiction Film

Auf der Bildebene arbeitet Gross­pietsch puristisch: Kein Bild ist manipuliert, die Montage ist mit nur etwa 100 Schnitten in 78 Filmminuten minimalistisch. Umso mehr stilistischen Ehrgeiz hat er auf der Tonebene entwickelt, statt eines Erzähltextes gibt es eine aufwendig produzierte Filmmusik des Jazzpianisten Vladyslav Sendecki. Der begleitet mit seinen einfallsreichen Kompositionen und Arrangements die Bilder nicht einfach konventionell, sondern kommentiert sie durchaus eigenwillig. So gibt es etwa ironische Überspitzungen wie die fetten Klänge eines Blasinstruments bei den Bildern vom fetten Euter einer Kuh auf einer Rinderschau, elegische Pianoläufe und ein mit gedämpftem Pathos gespieltes Hauptthema –Titel: „Fathers Land“.

Sendecki, ansonsten Teil der NDR-Bigband, entwickelt seine Melodien und Rhythmen oft aus den Originaltönen der entsprechenden Aufnahmen heraus. Besonders eindrucksvoll und irritierend gelingt ihm dies bei einer Sequenz, in der eine dörfliche Blaskapelle spielt: Am Anfang hört man sie noch selbst, doch wenn sie dann tatsächlich zu musizieren beginnt, erklingt zu diesen Bildern Sendeckis imaginäre Volksmusik.

Mit Grosspietsch hat der Musiker schon bei dem Film „Stadt“ zusammengearbeitet, der derzeit in der ARD-Mediathek zu sehen ist. Und in fünf Jahren hoffen sie die gemeinsame Trilogie abschließen zu können: mit einem Film des Titels „Fluss“.

„Land“: Regie: Timo Grosspietsch, Deutschland 2021, 76 Minuten

Der Film ist am 2. und 3. 9. auf dem Filmkunstfest in Schwerin zu sehen. Am 9. 11. zeigt ihn das NDR-Fernsehen, danach wird er auch in der ARD-Mediathek verfügbar sein

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