piwik no script img

Kinder zweiter Klasse

Für eine steile Karriere sind das Elternhaus und einflussreiche Netzwerke wichtiger als die fachliche Qualifikation, kritisiert der Armutsforscher Christoph Butterwegge. In einem Beitrag für Kontext erläutert er, warum Reichtum in der Familie bleibt.

Ähnliche soziokulturelle Milieus im Elite-Internat Salem. Foto: Joachim E. Röttgers

Von Gastautor Christoph Butterwegge↓

Kinder und Jugendliche bilden keine homogene Bevölkerungsgruppe, vielmehr gehören sie aufgrund des Einkommens und Vermögens, des Sozialstatus, der ethnischen Herkunft, der weltanschaulichen oder religiösen Überzeugung und des Bildungsgrades ihrer Eltern unterschiedlichen Klassen, Schichten und soziokulturellen Milieus an. Weil die zwischen den Erwachsenen seit geraumer Zeit deutlich zunehmende Ungleichheit voll auf die junge Genera­tion durchschlägt, gibt es Kinder erster und Kinder zweiter Klasse. Die verschiedenen Gesellschaftsschichten entfernen sich weiter voneinander, und zwar nicht bloß die Reichen und Hyperreichen von den Armen und Arbeitslosen, sondern auch die Wohlhabenden von den prekär Beschäftigten.

Je mehr die Gesellschaft der Bundesrepublik auseinanderdriftet und die Sozial­struktur zerfasert, umso schärfer manifestiert sich die Spaltung auch bei den jüngsten Gesellschaftsmitgliedern.

Eine ungleiche Generation

Während die einen als VerliererInnen geboren werden, kommen die anderen mit einem silbernen Löffel zur Welt und erben manchmal sogar einen goldenen. Wer das Glück hat, in eine Familie hineingeboren zu werden, die sehr vermögend ist, muss sich gar nicht groß anstrengen, um mehr zu erreichen als sein der „Unterschicht“ entstammender Altersgenosse. Dies gilt besonders dann, wenn der Vater zu jenen alteingesessenen „Familien­unter­nehmern“ gehört, die ein Millionen- oder Milliardenvermögen ihr Eigen nennen. Habitus, sozialer Status und bekannter Name der Herkunftsfamilie reichen meist schon aus, um Personalchefs großer Firmen, Beratungsagenturen oder Anwaltskanzleien von der „Qualifikation“ eines Bewerbers zu überzeugen.

In der Regel erfolgt die Auswahl aufgrund sachfremder Kriterien, während die fachliche Eignung und die persönliche Befähigung nur eine Nebenrolle spielen. Für die berufliche Karriere auf Top­niveau viel entscheidender sind persönliche Kontakte und einflussreiche Netzwerke. Groß­unternehmer rekrutieren den Nachwuchs ihres Führungspersonals in geradezu inzes­tuöser Weise aus den eigenen Bevölkerungskreisen. Man merkt jedem alerten Jungmanager im Vorstellungsgespräch sofort an, ob es sich um einen „Empor­kömmling“ oder einen Glücklicheren handelt, der die Etikette bereits mit der Muttermilch aufgesogen hat. Wer in einer Bankiers- oder Unter­nehmer­familie mit Hauspersonal großgeworden ist, tritt selbstbewusst auf und kann sich „richtig benehmen“.

In den Führungsetagen von Unternehmen, die im Deutschen Aktien-Index (Dax) gelistet sind, findet man daher keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung. Vielmehr überwiegen hier die Mitglieder einer sozial mehr oder weniger homogenen Wirtschafts- und Finanz­elite. Weniger als die Herkunft, der parkettsichere Auftritt und die perfekten Umgangsformen zählen die Professionalität, der Bildungsgrad und die soziale Kompetenz eines Bewerbers oder einer Bewerberin. Letztere hat ohnehin bedeutend schlechtere Aufstiegschancen in der reinen Männerwelt des Industrie-, Handels- und Finanzkapitals, wo die „Goldjungen“ trotz Einführung der ohnehin nur in Vorständen börsennotierter und paritätisch mitbestimmter Unternehmen mit mehr als drei Mitgliedern geltenden Frauenquote auch zukünftig weitgehend unter sich bleiben dürften. Besonders dem männlichen Nachwuchs aus „bestem Haus“ stehen unabhängig vom Talent die Türen zu den Glaspalästen von Großbanken und Versicherungskonzernen offen, deren Topetagen die Angst vor dem sozia­len Absturz selbst in Krisenzeiten nie erreicht, weil er bei finanziellen Schwierigkeiten das Family Office im Rücken hat.

Natürlich muss ein Kind keine hyper­reichen Eltern haben, um von Geburt an bessere Chancen im Hinblick auf die Entfaltung seiner Persönlichkeit, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu haben. Auch die meisten AkademikerInnen der Mittelschicht sorgen durch besondere Anstrengungen dafür, dass ihre Kinder eine gute Ausgangsbasis im Wettkampf um Bildungszertifikate und berufliche Führungspositionen besetzen. Sie schicken ihre Sprösslinge in private Kindertageseinrichtungen und auf Privatschulen, bezahlen ihnen Nachhilfestunden zwecks Verbesserung der Schulnoten, lassen sie Musikunterricht nehmen und finanzieren längere Auslandsaufenthalte, um die Fremdsprachenkenntnisse der Kinder zu verbessern.

Nicht die Arbeit macht reich, sondern das Erben

Kinder sind wohlhabend, wenn und weil ihre Eltern wohlhabend sind oder (im Todesfalle) waren. Dass sie vermögende Eltern hatten, merken solche Glückskinder manchmal erst, wenn sie zu Erben werden. Denn nun können sie plötzlich, statt Miete zu zahlen wie ihre KollegInnen, Freunde und Bekannten, ein Luxusapartment kaufen, in ein „angesagtes“ Stadtviertel ziehen und/oder im Beruf kürzertreten. Sind die Mittelschichteltern wohlhabend und noch rüstig, helfen sie ihren erwachsenen Kindern auch gern mit einer Finanzspritze beim Hausbau oder beim Wohnungskauf.

An die Stelle eines selbst oder mit fremder Hilfe geschaffenen Erwerbreichtums ist heute der Erbreichtum getreten. Selbst nennenswerter Wohlstand kann gar nicht mehr wie im Frühstadium der Bundes­republik durch eigene Leistung „erarbeitet“, aber umso leichter ver- und geerbt werden. Dafür haben die Parteien im Bundestag und ihre ParlamentarierInnen während der vergangenen Jahrzehnte durch eine Vielzahl von Steuerreformen gesorgt. Beispielsweise ist die Erbschaft- beziehungsweise Schenkungsteuer hierzulande so niedrig und ihr Finanzvolumen so gering wie in kaum einem westlichen Industriestaat: Mit sieben bis acht Milliarden Euro pro Jahr erbringt sie wenig mehr als ein Prozent des Gesamtsteueraufkommens. Während die Kinder­armut zunahm, wurden die reichsten Kinder im Land mit Steuergeschenken in Milliarden­höhe überhäuft.

Das geltende Erbschaftsteuerrecht begünstigt einerseits wohlhabende Mittelschichtfamilien, denen die relativ hohen Freibeträge für EhepartnerInnen beziehungsweise eingetragene LebenspartnerInnen (500.000 Euro) und Kinder (400.000 Euro pro Person) nach dem Tod eines vermögenden Haushaltsvorstandes jegliche Steuerzahlung ersparen. Angehörige der Mittelschicht profitieren auch davon, dass Immobilien – ein tradi­tio­neller Kernbestandteil ihres Vermögens – steuer­frei vererbt werden können, wenn EhegattInnen beziehungsweise eingetragene LebenspartnerInnen sie noch mindestens zehn Jahre lang bewohnen. Dies gilt auch für Kinder der ErblasserIn, sofern die Wohnfläche des Objekts 200 Quadratmeter nicht überschreitet.

Andererseits begünstigt das Erbschaftsteuerrecht hyperreiche Unternehmerfamilien, denen die Privilegierung des Betriebsvermögens und die Mehrfach­inanspruchnahme des Schenkung­steuer­freibe­trages die intergenerative Weitergabe von Unternehmen ermöglichen. Die von CDU, CSU, FDP, SPD und Teilen der Bündnisgrünen vorgenommenen Neurege­lungen fördern die Konzen­tra­tion des Kapitals, die Kumulation der Vermögen und die soziale Polarisation. Damit wurde die seit geraumer Zeit deutlicher hervorstechende Spaltung in Arm und Reich tendenziell noch verschärft. Außerdem wurde die Chance vertan, der öffentlichen Armut (von Bundesländern und Kommunen) entgegenzuwirken.

Steuergeschenke für minder­jährige Multimillionäre

Auch in der Erbengesellschaft gibt es Mitglieder erster und Mitglieder zweiter Klasse. Kinder reicher Unternehmerfamilien erben üblicherweise nicht bloß mehr, sondern zahlen mittlerweile auch weniger Erbschaftsteuern als Kinder der Mittelschicht – oftmals sogar überhaupt keine. So kann man heute als Sprössling einer Unternehmerfamilie einen ganzen Konzern erben oder aus Steuerspargründen von seinen noch quicklebendigen Eltern geschenkt bekommen, ohne dass auch nur ein Cent betriebliche Erbschaft- beziehungsweise Schenkungsteuer anfällt.

Besonders exzessiv wurde davon Gebrauch gemacht, als so manche Firmenpatriarchen fürchteten, das Erbschaftsteuerrecht werde aufgrund ihrer vom Bundesverfassungsgericht festgestellten „Überprivilegierung“ verschärft, was sie veranlasste, ihr Vermögen selbst kleinen Kindern vorzeitig zu schenken. Steuerstatistiken der Bundesländer offenbaren, dass von den steuerfreien Unternehmensübertragungen zwischen 2011 und 2014 im Wert von 144 Milliarden Euro, für die Altersangaben verfügbar sind, 37 Milliarden Euro an Minderjährige fielen; 90 Kinder im Alter von unter 14 Jahren, denen ein Vermögen von mindestens 20 Millio­nen Euro übertragen wurde, erhielten zusammen 29,4 Milliarden Euro, was im Durchschnitt nicht weniger als 327 Millionen Euro pro Kind ergibt. Wie kaum eine andere Zahl illustrieren diese Daten, welche enormen Vermögen manchen Sprösslingen von Unternehmerfamilien in den Schoß fallen, und zwar noch bevor ihre Eltern tot sind. Da kann man mit Fug und Recht von „Kinderreichtum“ sprechen, obwohl dieser Begriff im Deutschen paradoxerweise ausschließlich für große Familien und Länder mit einer besonders jungen Bevölkerung verwendet wird.

Ausgerechnet die Kinder aus Unternehmerdynastien sind durch die Bundesgesetzgebung in einer Weise begünstigt worden, die angesichts des Vermögens in mehrfacher Billionenhöhe, das während dieses und des nächsten Jahrzehnts übertragen wird, eine Refeudalisierung im Rahmen des Finanzmarktkapitalismus bewirken dürfte. Erbschaften gewährleisten das Fortbestehen der Konzentration des privaten Reichtums und stellen gleichzeitig die sozioökonomische Ungleichheit auf Dauer sicher. Ohne sie ginge das Spiel in jeder Generation von neuem los. Wer als GewinnerIn und wer als VerliererIn daraus hervorginge, würde von den Teilnehmerinnen selbst entschieden – und nicht von den Verwandtschaftsverhältnissen, also Eltern, Großeltern, Onkeln oder Tanten bestimmt.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen