: Gelegenheit für neue Desaster
Marion Löhndorfs Betrachtungen aus der Innen- wie der Außenperspektive: „Geschüttelt, aber ungerührt. Was England anders macht“
Von Brigitte Werneburg
Ungebrochen seiner Liebe zu England zu frönen, das gelingt noch immer in seinen Gärten. Sofern sie zugänglich sind. Fünfzig Prozent des Grund und Bodens in Großbritannien gehören nur einem Prozent der Bevölkerung, habe ich vor Kurzem in der Ausstellung „Boden für alle“ im Wiener Architekturmuseum erfahren. Ist damit nicht alles gesagt? Lohnt da noch die Lektüre „England ist Klasse“ in Marion Löhndorfs Großessay „Geschüttelt, aber ungerührt. Was England anders macht“? Es lohnt. Unbedingt.
Und deshalb zurück zum Garten und der Liebe zum Garten, in der, wie die Autorin schreibt, „die englische Landliebe sich im Kleinen spiegelt“. Da die englische Gesellschaft sich immer nach dem Land orientierte, wo die Gentry lebte, und nicht nach dem Hof, ist die Countryside der Sehnsuchtsort, an dem England zu sich kommt. Allerdings eben nicht ganz England. Dagegen stehen die Besitzverhältnisse.
Immerhin jenseits der großen Gartenkunstwerke wie dem Landschaftspark Stourhead, der ab 1740 entstand, oder Longleat, eine Schöpfung Lancelot Browns (1716–1783), bestellen 300.000 Schrebergärtner ihre Parzellen. In ihnen findet sich neben Beeten für Obst und Gemüse auch Platz für ein Stück ländlichen Blumengarten, wie ihn die einflussreiche Gartengestalterin Gertrude Jekyll (1843–1932) Ende des 19. Jahrhunderts populär machte. Dazu gehören, wie Löhndorf schreibt, „die Tage der ‚Open Gardens’ zu den Gelegenheiten, bei denen die Klassengegensätze ruhen und die Größenunterschiede zwischen den Gartenflächen auf einmal unwichtig werden“.
Die kunstvoll bebauten Grünflächen verführen dann zu schwelgerischer Betrachtung. „Denn es ist, als ob sie alles enthielten, was den Charme des Landes ausmacht: die von langer Hand dicht geknüpfte Allianz zwischen Historie, Kultur und pittoresk gebändigter Natur. Nichts schießt da ins Kraut, wenig schlägt wild über die Stränge, alles wächst geordnet und vorbildlich zusammen.“ Das aber lässt sich eben nur vom englischen Garten sagen, nicht von England selbst. Geordnet und geplant ist da nur weniges, was sich zuletzt sehr deutlich im Umgang mit dem Brexit zeigte.
Man mag sich mit Boris Johnson trösten. „Wie ich selbst herausgefunden habe“, zitiert ihn Marion Löhndorf in dem Unterkapitel „Schönheit und Schrecken der Improvisation“, „gibt es keine Desaster, nur gute Gelegenheiten. Und freilich, gute Gelegenheiten für neue Desaster.“ Die Autorin umgekehrt, die auch jenseits des Themas Brexit, etwa im Umgang mit Corona, im Zusammenleben der Kulturen, beim Thema London, Queen oder Hooligans etlich Desaströses findet, sieht darin nur neue gute Gelegenheiten, England und seine Bewohner ins rechte Licht zu rücken, was ohne kritische Schlagschatten nicht geht.
Marion Löhndorfs Essay mit seiner deutlichen Sympathie für all das, was England anders macht und was wir, die vom Kontinent, oft nicht wirklich verstehen, ist das Buch der Stunde. Jetzt, wo die Verletzungen des Brexits noch frisch im Gedächtnis sind und schon weitere Bitterkeit droht bei der Abwicklung der ganzen Angelegenheit, freut jede Verständnishilfe, ob fürs Alltägliche oder die Selbststilisierung des Landes, was in eins fällt mit der Idee, a nice cup of tea würde die Welt in jeder noch so schwierigen Lage schon wieder in Ordnung bringen.
Gleich zu Anfang kommt die Autorin darauf zu sprechen, wie sie sich schon bei ihrem ersten Besuch in England verliebt hat. Später dann auch in einen Engländer, mit dem sie inzwischen verheiratet ist. Als langjährige Kulturkorrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung in London, verbindet Marion Löhndorf die Innensicht mit dem Blick von außen.
Was sich aufs Schönste in ihren pointierten Ausführungen zum Thema Brexit und anderen politischen Fragen wie dem Gesundheitssystem, der Monarchie aber auch Bildungssystem und Wissenschaft zeigt. Dass fünfzig Prozent des Bodens einem Prozent der Bevölkerung gehören, ist krass, macht es aber umso interessanter, auf so unterhaltsame wie informierte Weise wie in dieser Neuerscheinung zu erfahren, wie die 99 Prozent so ticken, die sich den Rest des Bodens teilen.
Marion Löhndorf: „Geschüttelt, aber ungerührt. Was England anders macht“. Zu Klampen Verlag, 2021, 232 Seiten, 22 Euro
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