: Die Literatur ist tot – es lebe der Ball
„Die Wahrheit liegt auf dem Platz“ – eine Lesung im Literaturhaus Berlin lässt nichts Gutes ahnen. Ja, so etwas passiert
Es gibt ein paar Gründe an diesem lauen Samstagabend bei einer Pausenzigarette auf der Terrasse des Berliner Literaturhauses an Mario Basler zu denken. Er war ein renitenter Raucher, pöbelte gern rum und schlug, wenn er Lust und Luft hatte, geniale Pässe. Als Roger Wilhelmsen einst beim Talk in ihm einen Rebellen und zweiten Netzer entdecken wollte, fand er lediglich einen irr-verschlagenen Eckkneipenproleten vor – die Stimmung im Studio drohte damals zu kippen.
Im wunderschönen Garten des Literaturhauses sitzen derweil ältere gut erhaltene Herrschaften bei Wein und Speisen, in der Fasanenstraße gegenüber sitzt Gucci. Im Saal haben die Münchner Schriftstellerin Ulrike Draesner und der Schauspieler Friedhelm Ptock gerade die erste Halbzeit ihres Leseabends zur WM 2006 mit Gedichten hinter sich gebracht, Fußballtexte von Karl Valentin, Bertolt Brecht, Ota Filip, Ror Wolf und anderen werden folgen – den Theodor im Fußballtor selbstverständlich inbegriffen.
Nett hier, fällt einem ein. Aber waren diese Lesenden schon einmal in einem Fußballstadion? Würde diese Veranstaltung mit dem unfreiwillig korrekten Namen „Die Wahrheit liegt auf dem Platz“ und dem pompös-schwachsinnigen Untertitel „Offizieller Beitrag des Kunst- und Kulturprogramms der Bundesregierung“ – warum nicht „Beitrag des offiziellen Kunst- und Kulturprogramms“? – würde diese Veranstaltung einen Mario Basler verkraften?
Wahr ist jedenfalls, dass die bundesweit flankierende Fußballplakataktion „Literaturhaus bringt Poesie in die Stadt“ ein Gedicht von Günter Grass problemlos integriert:
DER BALL IST RUND
Meiner hat eine Delle.
Von Jugend an drücke
Und drücke ich: aber
Er will nur einerseits rund sein.
Dass selbst ein solch hoch subventioniertes Nonsens-Gebilde keinen poetischen Schiedsrichterskandal ins Rollen bringen kann, das immerhin verdeutlicht dieser Abend aufs Beschaulichste. Denn noch die ordinär-dümmste Auslassung eines Rudi Assauer oder Karl Heinz Rummenigge ist spannender als die meisten der demnächst aushängenden Gedichte (u. a. von Robert Gernhardt, Urs Widmer, Ilse Aichinger) samt der dargebotenen Jazz-und-Poesie-Mischung. Und wenn Ulrike Draesners wirklich schöne Stimme gerade so etwas wie Genuss bereitet hat, quäkt prompt ein Saxofon dazwischen – unfassbar, dass es diese Art von Lesungen überhaupt noch gibt.
Und doch sind alle Stühle, bei allerdings freiem Eintritt, besetzt. Das saubere Vortragshandwerk wird gemessen begluckst und beklatscht von einem fußlahmen Publikum, das dezentes kulturgeneriertes Hintergrundgeräusch als offizielle Beilage zu Weißwein zu schätzen weiß. In die als Bandenwerbung rundherum aufgebauten Vitrinen sind als Vorgeschmack auf die Plakataktion mit bemerkenswerter Lieblosigkeit Postkarten geworfen.
Dies also ist sie, die offizielle, durch die Literaturtotenhäuser der Republik wandernde Auseinandersetzung der offiziellen deutschsprachigen Literatur mit dem Business-Megaevent Fußballweltmeisterschaft Deutschland 2006: ein Desaster der Eingebettetheit, der Harmlosigkeit. Da lachen selbst die offiziellen Maskottchen.
Wie man es besser machen kann, wie man dem Sponsor Bundesregierung zwar ein Gedicht, aber nicht seine ganze Person verkauft; wie man sich also schlicht professionell aus einer von vornherein verlorenen Partie verabschiedet, das zu beweisen, musste mal wieder Elfriede Jelinek, ja: ran. Sie jedenfalls wäre einem Basler jederzeit gewachsen, von Wilhelmsen und anderen Fußballintellektuellen ganz zu schweigen:
Die Wahrheit liegt auf dem Platz.
Die Wahrheit liegt unter dem Platz.
Die Wahrheit ist doch gekauft.
Die Wahrheit ist unter den Platz verschoben worden.
Die Wahrheit hat sich mit Kriminellen eingelassen.
Die Wahrheit wurde ausgelassen.
Die Wahrheit hat stark nach gelassen.
Die Wahrheit hat das Unvorstellbare getan.
Die Wahrheit erregt die Gemüter durch zwei merkwürdige Elfmeter.
Die Wahrheit: hochriskant! Ein Leben im Rausch der Kohle.
So etwas passiert. Ambros Waibel