berliner szenen: Ein Lächeln, wie neu in der Stadt
Ich stand auf und rief im Sender an, während Emma sich etwas umständlich anzog. Manchmal hat sie den Charme einer Lehrerin, dachte ich, während ich sie aus drei Metern Entfernung musterte und gleichzeitig mit einem Kollegen redete. Sie war durch die Betten der Stadt gewandert, das wusste ich. Eine ehrgeizige Lehrerin, die nichts anbrennen ließ. Wir hatten uns an einem hellen Apriltag auf einem Presseempfang kennengelernt. Im Familienministerium. Sie war elegant in den Raum geschritten, einen lichtdurchfluteten weißen Saal mit hohen Fenstern im Erdgeschoss dieses kalt und lieblos mit grauen Bauklötzen zusammengestapelten Neubaus in der Glinkastraße in Mitte, und hatte mich angelächelt, mit einem offenen Lächeln, wie ich es von Kolleginnen nicht kannte, von Politikerinnen oder Passantinnen, von den Frauen in Bars, sie musste neu sein. Neu in der Stadt. Mit so einem außerstädtischem Lächeln.
Und dann hatte sie sich auf einen der freien Plätze gesetzt, zwei lichte Reihen vor mir, sich wie zufällig umgedreht, um mir ein weiteres Lächeln zu schenken, ein Blondschopf mit einer Ponyfrisur und mit dem für junge Frauen üblichen Schal um den schlanken Hals, und wie auf Stichwort hatte ein älterer Mann mit grauen Schläfen den Raum betreten. Zwei Wangenküsse, ein Aufblick und ein noch breiteres Lächeln, als er sich neben sie setzte. Vergeblichkeit und Hoffnung in ein und demselben Moment. Vergeblichkeit, weil es schien, dass sie vergeben war. Hoffnung, weil es bedeutete, dass sie bald frei sein würde, denn den Mann kannte ich, ein Mitarbeiter des Presserats, verheiratet, leichtlebig, jenseits der 50, nicht sportlich, was ihn alles nicht davon abhielt, mit allem, was jünger war und einen Rock trug, zu flirten; nichts davon hielt länger als nötig. Außerdem gab es jetzt eine Verbindung, auf die aufzubauen war. René Hamann
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