Die Ausschlussformel

Andere Ziele sollen zurückgestellt werden. Das heißt: die Rechte der Beschäftigten liquidieren

VON CHRISTIAN SEMLER

Sozial gerecht ist, was Arbeit schafft – und ungerecht ist, was Arbeit verhindert. Dieser Gemeinspruch diente Edmund Stoiber als Leitstern, um im Wahlkampf von 2002 den Sozialdemokraten das Interpretationsmonopol in Sachen Gerechtigkeit zu entwinden. CDU und CSU hatten schon damals, als von Schröders Agenda 2010 noch nicht die Rede war – sie kam erst 2003 –, erfasst, dass in Deutschland unter der Bevölkerung ein intuitiver Gerechtigkeitsmaßstab an Bedeutung gewann: Wenn es schon sein muss, die Systeme der sozialen Sicherung zu sanieren, so sollen die damit verbundenen Lasten gerecht verteilt werden – je nach Belastbarkeit. Für die CDU/CSU galt es, diese intuitive Einsicht einerseits aufzunehmen, andererseits sie entsprechend ihrer eigenen Grundlinie umzubiegen.

Stoibers Gerechtigkeitspostulat kam 2002 bei den Wahlen nicht zum Zug, weil angesichts der Natur- wie der drohenden Kriegskatastrophe das Bedürfnis nach dem entschlossen handelnden Staatslenker beim Wahlvolk alle anderen Bedürfnisse an den Rand drängte. Aber „gerecht ist, was Arbeit schafft“, bestimmt nach wie vor die Propagandalinie der Christdemokraten. Seine überparteiliche Weihe erhielt der Slogan im Juni dieses Jahres aus dem Mund des Bundespräsidenten, diesmal volkstümlich in der Sprache der Straßenverkehrsordnung: „Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir in Deutschland eine Vorfahrtsregel für Arbeit. Was der Schaffung und Sicherung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze dient, muss getan werden. Was dem entgegensteht, muss unterlassen werden. Was anderen Zielen dient, und seien sie noch so wünschenswert, ist nachrangig.“

Das Geschickte an den Formeln „Vorfahrt für Arbeit“ wie „Sozial gerecht ist, was Arbeit schafft“ besteht in ihrer scheinbaren Plausibilität. Empirische Erhebungen auch aus der jüngsten Zeit belehren uns über die Tatsache, dass die Arbeit nicht nur als Mittel der Reproduktion empfunden wird, als notwendiges Übel, um Bares heranzuschaffen. Arbeit gilt als Anker allen Selbstwertgefühls, als hauptsächlicher Quell der Achtung wie der Anerkennung, als „Sinn stiftend“. Arbeit aber wird im Prototyp der Erwerbsarbeit begriffen, bestimmt durch Stabilität und Stetigkeit, die allein eine vernünftige Lebensplanung verbürgen. Also durch einen dauerhaften Arbeitsplatz, geregelt durch einen vorgegebenen Zeitrahmen, entlohnt nach ausgehandelten Tarifen.

Die Rede vom glücklichen Arbeitslosen, der, zwischen der Stütze und Gelegenheitsarbeit hin und her pendelnd, der Sozialbürokratie ein Schnippchen schlägt, um, im sicheren Verbund mit Gleichgesinnten, das zu tun, was ihm sinnvoll erscheint, bezog sich immer auf einen sehr engen Kreis. Wer eine Familie gründete, wer die Dreißiger überschritt, verließ ihn in der Regel nolens volens. Die Erfolge dieser Sozialvirtuosen waren zudem vom reibungslosen Funktionieren der sozialen Sicherungssysteme abhängig.

Das Problem bei der durch die Empirie erhärteten allgemeinen Wertschätzung der Erwerbsarbeit besteht aber darin, dass diese zunehmend verschwindet. Wir sind Zeuge, wie die Stammbelegschaften der Großbetriebe schrumpfen, wie immer mehr Tätigkeiten ausgelagert werden. An die Stelle „normaler“ Arbeitsverhältnisse treten zeitlich befristete, an die Stelle von Arbeitsverträgen Honorarverträge. An die Stelle der Stetigkeit tritt eine auferlegte Flexibilität. Die vormalige Trennung von Arbeitszeit und freier Zeit verschwimmt zugunsten einer immer währenden Abrufbarkeit. Und dort, wo betrieblichen Kollektiven Verantwortung für den Ablauf der Produktfertigung übertragen wird, erweitert sich nicht das Feld vielfältiger und abwechslungsreicher Tätigkeit, sondern der Druck durch Intensivierung der Arbeit wird verinnerlicht. Mit einem Wort, die Vorstellung von Arbeit und die Realität der Arbeitsverhältnisse klaffen immer weiter auseinander.

Die Maßvollen in der Partei müssen die Gegensätze zwischen der neuen Formel und den C-Werten abfedern

Der Arbeitssoziologe Robert Castel spricht von drei Zonen: der der Exklusion, also der Ausgeschlossenen; der der Verwundbarkeit, also der prekär Beschäftigten; und der der Integration, also derer, die sich im sicheren Besitz eines Arbeitsplatzes und der damit verbundenen Ansprüche wähnen. In der Rede von „Vorfahrt für Arbeit“ und dem damit verbundenen Gerechtigkeitspostulat wird explizit darauf abgestellt, den Niedriglohnsektor zu erweitern, sprich die Zone der Prekarität zu bevölkern. Wenn Köhler von „wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen“ spricht, dann sind diese eben nicht, wie er im selben Atemzug fordert, sicher. Und wenn er empfiehlt, andere „wünschenswerte Ziele“ zurückzustellen, so meint dies nichts anderes, als Abwehrrechte der Beschäftigten gegenüber den Unternehmern zu liquidieren oder abzubauen.

In dieser Hinsicht ist die Rede des bayrischen Staatsministers Erwin Huber, eines der federführenden Autoren des Wahlprogramms von CDU und CSU, instruktiv, die er im März letzten Jahres vor dem Forum des Kolpingwerkes (also eines Horts der katholischen Soziallehre!) gehalten hat. Huber redet hier den „beschäftigungssichernden Betriebsvereinbarungen“ (also der weiteren Aushöhlung des Flächentarifvertrages), der Lockerung des Kündigungsschutzes, der Einschränkung des Teilzeitanspruchs und der Deregulierung von Ausbildungsverordnungen das Wort. Also das volle Programm, vermehrt um „den Druck auf jene, die Arbeitslosengeld II erhalten, aber Beschäftigungsangebote nicht annehmen.“

Halten wir uns nicht lange mit der Beweisführung auf, dass der noch bestehende Kündigungsschutz angesichts der Praxis von Abfindungen kein ernsthaftes Hindernis für die Unternehmer, auch Kleinunternehmer, wäre, einzustellen. Weisen wir nur im Vorübergehen darauf hin, dass die Flächentarife durch die Massierung von Öffnungsklauseln bereits jetzt so durchlöchert sind, dass auch sie keine Barriere für betriebliche „Anpassungen“ nach unten bilden. Sieben Jahre Praxis der rot-grünen Regierung, den Kapitalisten zu Lasten der Beschäftigten Anreiz auf Anreiz zu Neueinstellungen zu geben, haben die Wirkungslosigkeit dieser Maßnahmen zur Genüge dargetan. Selbst wenn wir annähmen, die Unions-Vorschläge griffen und es käme zu einer Anstellungswelle, so blieben diese Jobs unsicher, durch keinen Kündigungsschutz gesichert, ohne Übergang zur „Zone der Integration“. Denn es ist die „Zone der Prekarität“, die sich bei Zunahme der Beschäftigung ständig ausdehnt.

Untersuchen wir den Zusammenhang des Huber-Katalogs mit dem Gerechtigkeitspostulat von CDU/CSU.

Das Problem bei der Wertschätzung der Erwerbsarbeit ist, dass diese verschwindet

Huber sagt klipp und klar, hier handele es sich um die „Einschränkung von Arbeitnehmerrechten“. Aber: „Durch diese Maßnahme entsteht Hoffnung, Hoffnung auf Arbeit.“ Um danach zu fragen: „Was ist nun sozial gerecht?“ Er antwortet: „Ich meine, die Chancen auf Arbeit zu vermehren, für junge wie für ältere Arbeitslose. Das verstehen wir unter Chancengerechtigkeit.“

Gewiss, der soziale Gerechtigkeitsdiskurs hat, je nach dem politischen und gesellschaftlichen Standort des Fragenden, auch bei uns sehr unterschiedliche Bedeutungen. Chancengleichheit könnte als Kriterium dienen, um das Maß an Gegenmacht der organisierten Arbeiterschaft gegenüber dem strukturellen Übergewicht der Unternehmerseite zu bestimmen, das durch den Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft verursacht wird. Die Chancengleichheit versagt aber vollkommen, wenn es um das Verhältnis der von Exklusion Bedrohten zu den Inhabern von Arbeitsplätzen geht. Exklusion, also Ausschluss, betrifft nicht nur den Zugang zu Arbeitsplätzen, sondern den schrittweisen Verlust aller Möglichkeiten, im sozialen Leben Ort und Anerkennung zu finden. Deshalb kann sich die hier angemessene Form der Gerechtigkeit nur auf Teilhabe beziehen. Teilhabegerechtigkeit hinsichtlich der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, aus denen der oder die Arbeitslose tendenziell ausgeschlossen ist. Teilhabegerechtigkeit aber auch hinsichtlich der Formen, mittels deren zu einer neuen Beschäftigung gefunden wird. Teilhabegerechtigkeit schließt, bezogen auf Beschäftigungsverhältnisse, gerade ein, dass die Zentralität von Erwerbsarbeit schrittweise relativiert wird zugunsten neuer Formen sinnvoller und selbstbestimmter Arbeit, die seitens des Staates finanziell zu stützen wären. Demgegenüber verweist die Formel „Gerecht ist, was Arbeit schafft“ nur zurück auf die Vorstellung von Vollbeschäftigung zu miesen Löhnen und Arbeitsbedingungen. Eine Vorstellung, die sich zudem als Schimäre erwiesen hat.

Die CDU/CSU-Formel stößt sich, weil sie systematisch von der Würde des und der Arbeitslosen und der durch sie vermittelten „Würde der Arbeit“ abstrahiert, an den Grundlagen der christlichen Sozialethik. Diese Ethik kreist um Personalität, Subsidiarität und Solidarität. Gerade die Auffassung persönlicher, von Gott gestifteter Würde hat den verstorbenen Papst dazu bestimmt, zum zeitgenössischen Kapitalismus ebenso auf Distanz zu gehen wie zum real existierenden Sozialismus. Zwischen einem Wertehorizont, der auf dem „C“ basiert, und dem Ideenhaushalt der CDU/CSU-Führung besteht also ein Spannungsverhältnis, das klein zu halten oder zu leugnen zu den Hauptaufgaben dieser Führung gehört. Wolfgang Schäubles „Maß halten“ als Forderung an die CDU-Sozialpolitik, die Ermahnung anderer konservativ Gestimmter, die Sache langsam und rücksichtsvoll angehen zu lassen, erfüllen diese Funktion. Aber diese Kluft wird sich weiten, zumindest für die, die als ArbeiterInnen ihre Hoffnung auf die Christdemokraten setzen.