: Auf Station zum Runterkommen
Eine Essener Klinik behandelt drogensüchtige Jugendliche. Mit Basketball, Meetings und vielen Kippen versuchen auch Kiffer endlich clean zu werden
AUS ESSEN DANIEL CHUR
Um 14:30 Uhr gibt es wieder Kippen. Die Stunden ohne waren die Hölle, von irgendwas muss der Mensch ja leben: Jan* nimmt einen tiefen Zug. Der Deutschunterricht war ziemlich übel. Rechtschreibung hat Jan noch nicht so drauf. Das will er verbessern, sobald er draußen ist. Draußen – das ist das Ruhrgebiet, dort lebt er sonst. Drinnen – das ist PK4, die Suchtstation für Jugendliche, dort lebt er jetzt.
Zusammen mit neun anderen Jugendlichen, alle unter 18, befindet sich Jan im Essener Universitätsklinikum in einer Therapie gegen seine Sucht. Kiffen, darum drehte sich fast vier Jahre lang sein Leben. Jan ist jetzt 16.
„Im Unterricht hatte ich heute einfach nur Bock zu malen. Das hat meiner Lehrerin nicht gefallen“, erzählt er in der Zigarettenpause: „Auch gegessen habe ich in der Stunde. Da sagte sie, ich soll damit aufhören. Aber, wenn ich doch Hunger habe, was soll ich da machen?“
Schulunterricht gehört zum Tagesablauf. Die Jugendlichen kommen aus unterschiedlichen Schulformen und Jahrgangsstufen mit unterschiedlichem Wissensstand. Der Unterricht wird deshalb in kleinen Gruppen individuell angelegt. Jeder bekommt seine Aufgabe für die jeweilige Stunde.
Seit dem vergangenen Jahr gibt es die Station PK4 der Rheinischen Kliniken Essen. Die Räume sind modern und wirken hell, teilweise sind sie von den Jugendlichen selbst gestaltet worden. Bis zu zehn Patienten können hier zwei- bis sechswöchige Entziehungskuren von Cannabis, Ecstasy, Alkohol, Pilzen und anderen Drogen machen – egal ob freiwillig oder unfreiwillig. Das Personal besteht aus fünfzehn Ärzten, Sozialarbeitern, Ergotherapeuten und Lehrern.
Die Station ist nicht nur ein Therapieangebot. PK4 ist auch ein Forschungsprojekt: „Viele der drogenkranken Jugendlichen haben eine Begleiterkrankung: Aufmerksamkeitsstörungen, soziale Störungen, Psychosen, Traumata“, sagt Oberarzt Niklas Quecke. Über diese und über die sozialen Umstände soll nun eine strukturelle Erhebung gemacht werden: „Wir wollen wissen: Wer kommt zu uns? Was für Jugendliche sind das? Wie ist ihr sozialer Hintergrund?“, so Quecke.
Dass einiger Klärungsbedarf besteht, kann auch der aktuelle Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung belegen: Demnach hat ein Drittel der 12- bis 25-Jährigen schon einmal illegale Drogen konsumiert – vor allem Cannabis-Produkte. Und durch Alkopops hat sich die Zahl der Alkohol konsumierenden Jugendlichen verdoppelt – von acht auf 16 Prozent seit 2001. Immerhin gibt es hier Maßnahmen des Gesetzgebers, die laut Bundesregierung erste positive Wirkungen zeigen. Doch der Konsum von Cannabis bei Jugendlichen wird weiterhin beobachtet und als „alarmierend“ bewertet. Nach dem Bericht der Bundesdrogenbeauftragten, Marion Caspers-Merk, ist die Akzeptanz von Cannabis unter den Jugendlichen gestiegen. Das Einstiegsalter beim Erstkonsum von Cannabisprodukten ist in den vergangenen Jahren weiter gesunken – von 17,5 auf 16,4 Jahre im Durchschnitt. Für Caspers-Merk eine brisante Situation: „Der Cannabiskonsum hat heute eine andere Dimension als noch zu Flower-Power-Zeiten, als am Wochenende vielleicht mal ein Joint die Runde machte.“ Zwar belasse es die große Mehrheit der Konsumenten beim Probieren, „gleichzeitig kiffen aber immer mehr junge Leute in exzessivem Ausmaß und sind praktisch den ganzen Tag breit“, so die Drogenbeauftragte.
Auch Jan ging es so in den vergangenen Jahren. Seinen Vater lernte er nie kennen, die Mutter hatte selbst Drogenprobleme. Stiefvater, Stiefgeschwister – Jan kam in seiner Familie nie richtig klar. Mit zwölf zog er in eine vom Jugendamt betreute Wohngemeinschaft. Hier begann er mit dem Kiffen. Irgendwann bestimmte die Droge seinen gesamten Lebensrhythmus. Vor einigen Wochen dann die Notbremse. Er ging freiwillig auf die PK4: „Die ersten zwei Wochen waren eigentlich sehr hart für mich, wegen dem Suchtdruck“, sagt Jan. Den hatte er nicht so stark erwartet. Schlecht drauf war er, dachte viel nach, war in sich gekehrt: „Man redet nicht viel, man isst nicht viel, man trinkt nicht viel. Das ist so ‘ne Sache.“ An das Leben auf der Station und in der Gruppe musste Jan sich erst gewöhnen. „Alleine sein und nachdenken kann man hier nicht, wenn man mit drei Leuten auf einem Zimmer ist“, erzählt Jan. „Da kommt immer einer rein, wenn man mal was malen will oder Briefe schreiben.“
PK4 ist Gruppenleben: Täglich Schulunterricht, täglich Sport und mehrere Gruppenbesprechungen, am Wochenende gemeinsames Kochen. Und Jan wurde klar: „Man muss hier einfach zusammenhalten. Viele ticken oft aus, aber wenn hier einer Scheiße baut, leiden alle anderen drunter.“ In den täglichen Runden werden die Probleme in und mit der Gruppe besprochen. Niklas Quecke und seine Kollegen sind hier nicht nur Gesprächsleiter: „Wir wollen unterstützen und motivieren“, so Quecke. Dazu gehört auch der private Umgang: Oft steht der Oberarzt in den Pausen mit den Jugendlichen rauchend im Gruppenraum oder am Kicker. Auch Sport ist ein Teil der Therapie – ob Joggen, Tischtennis, Fußball oder Basketball. Jan hat seit Jahren keinen Sport mehr getrieben und spürt die Folgen: „Zwei Stunden lang Basketball spielen ist richtig heftig. Ich konnte nicht mehr, hab immer noch Muskelkater in den Beinen“ – dann grinst Jan, „aber das ist cool so.“
Angebote für Suchttherapie wie die PK4 bekommen offenbar immer mehr Bedeutung. Das unterstreichen auch die Ergebnisse der Fachkonferenz „Jugendkult Cannabis“ . Hier versammelten sich im vergangenen Winter auf Einladung der Bundesbeauftragten Experten aus Wissenschaft, Praxis und Politik. Ein Resultat der Konferenz: Zwischen den beteiligten Gesundheitsberufen, der Suchthilfe, dem Bildungsbereich und den Elterninitiativen sollen Netzwerke aufgebaut werden. Auch sollen fortan stärker familientherapeutisch orientierte Maßnahmen weiterentwickelt und evaluiert werden.
Gerade bei der Familie setzt die Therapie in Essen an: „Die Arbeit mit den Erziehungsberechtigten ist bei uns ein zentraler Bestandteil, denn häufig entstehen die Probleme der Kinder ja zuhause“, sagt Oberarzt Quecke. Die Therapie auf der PK4 sei deshalb auch immer ein Stück Familientherapie – die Kommunikation zwischen Kind und Eltern sei zuhause oft stark gestört gewesen. Und deshalb verhielten sich die Erziehungsberechtigten auch während des Stationsaufenthaltes ihrer Kinder, laut Quecke, völlig irrational: „In Einzelfällen kam es vor, dass Eltern ihren Kindern beim Besuch auf der Station heimlich Cannabis zusteckten.“ Ein solches Verhalten sei höchstwahrscheinlich gemeint als Form der ‚Wiedergutmachung‘ für zuvor begangene Fehler, glaubt Quecke.
Jan erzählt, dass seine Eltern ihm immer Zigaretten oder Geld mitbringen, wenn sie ihn besuchen. Jeden Sonntag kommt seine Familie, das Verhältnis habe sich jetzt gebessert. Sie gehen spazieren, Eis essen, vielleicht noch zu McDonalds: „So ein bisschen vermisst man Fast Food schon, wenn man hier drin ist“, sagt Jan.
Der 16-jährige bereut es nicht, auf die PK4 gegangen zu sein. Er gilt jetzt als clean. Doch die tatsächliche Bewährung kommt erst nach der Suchtstation. Durch sein Umfeld ist er stark gefährdet. „Ich habe das Gefühl, stark bleiben zu können“, sagt Jan, „aber das sehe ich erst wirklich, wenn mir einer ‘nen Joint andrehen will.“ Oft sehnt sich Jan nach seinem Leben ‚draußen‘: „Mit Kollegen bis in die Nacht Karten zocken, laute Musik hören, so richtig aufdrehen oder mit BMX rum fahren. Einfach frei sein.“
Sind die Patienten nach der Therapie tatsächlich wieder frei oder zumindest freier – auch bezogen auf ihre Sucht? Wie steht es mit der Erfolgsquote? In einer Studie soll das nun geprüft werden. Im Moment kann sich Quecke nur an internationalen Studien orientieren, die einen allgemeinen Konsumrückgang nach einer ambulanten Therapie ergaben. Jedoch sei, laut Quecke, eine Nachverfolgung der einzelnen Fälle oft recht schwierig: „Wenn sie weg sind, sind sie weg.“
*Name von der Redaktion geändert