: Der Schnellste seiner Art
Im Verein ist Kunst am schönsten (4): Zu Recht zählen die Kunstvereine seit 2021 zum immateriellen Weltkulturerbe. Ihre Erkundungs- und Vermittlungsarbeit macht Gegenwartskunst für jeden erfahrbar – noch bevor sie im Museum einstaubt. Und jeder hat seine ganz eigene Geschichte: Die taz erkundet ihren Beitrag zum norddeutschen Kulturleben in Porträts. Diesmal: Wolfsburg
Von Bettina Maria Brosowsky
Das Jahr 1959 bedeutete weltweit wichtige, auch traumatische Weichenstellungen: Die USA rekrutierten erste Astronauten für ihr bemanntes Raumfahrtprogramm, der Krieg zwischen Nord- und Südvietnam markierte den Anfang von dem, was später als Vietnamkrieg bezeichnet werden wird, der Volkswagenkonzern eröffnete seine erste Fabrik in Brasilien – und im Dezember gründete sich, auf Einladung durch den Oberstadtdirektor, im Sitzungssaal des Rathauses der Kunstverein Wolfsburg mit 95 initialen Mitgliedern.
Nicht ganz ernst gemeint, verortete der Verein sich dann anlässlich seines 50-jährigen Jubiläums 2009 in diesem globalen Kontext; ferner gab er eine Publikation mit Archivvideos und Ausstellungshighlights heraus. Zu seiner Genese, so hieß es, gehörten auch der rekordverdächtig frühe Zeitpunkt der Gründung, nämlich gerade mal 21 Jahre, nachdem die Errichtung der Autofabrik 1938 die Entstehung der „Stadt des Kraft-durch-Freude-Wagens“ selbst eingeleitet hatte. Kein Kunstverein wäre je schneller entstanden.
Es dauerte dann aber bis weit in die 1960er, bis der Verein eigene Räume erhielt, im Schloss, also in Alt-Wolfsburg, abseits der Stadt. Und erst 1999 endete die Personalunion mit der Städtischen Galerie, erste eigenständige Direktorin wurde Barbara Steiner. Die umtriebige Österreicherin bezeichnete Wolfsburg zwar als „die perfekte Stadt für zeitgenössische Kunst“, ging aber dennoch schnell wieder fort: nach Leipzig und als Dozentin an die Hochschule Linz. Ab September 2021 übernimmt die promovierte Kunsthistorikerin als Direktorin die Stiftung Bauhaus Dessau. Doch, ja: Auch Kunstvereine können Karriereleitern sein.
Ihr Nachfolger Justin Hoffmann hat den Kunstverein seit 2004 lokal und global ausgerichtet, wie er es selbst nennt. Zur ersten, der lokalen Kategorie zählt der 2006 ins Leben gerufene „Arti“. Der alle zwei Jahre themengebunden ausgelobte Kunstpreis richtet sich an professionelle Künstler:innen ebenso wie an Amateur:innen – Voraussetzung ist Wolfsburg als „Lebensmittelpunkt“. Dieser Preis, wohl immer noch einzigartig mutig in der norddeutschen Kunstvereinsszene, ist ungebrochen beliebt: Oft gehen über 50 Bewerbungen ein. Und 2010 kam mit „Arteen“ sogar noch ein Preis für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren hinzu.
Ein Hybrid ist das Wolfsburger Wissenschafts- und Kunstfestival „Phaenomenale“, das 2007 mit dem Science Center „Phæno“, internationalen Beiträgen und einer Anschubfinanzierung der Kulturstiftung des Bundes an den Start ging. Seit 2011 findet es nur noch alle zwei Jahre statt, dafür mit einem eigenen Preis, dem „Social Media Award“.
Global ausgewählt schließlich sind die Künstler:innen, die meist in Themenausstellungen aktuellen gesellschaftlichen Fragen nachspüren. Für dieses Profil erhielt der Kunstverein Wolfsburg 2007 die Auszeichnung der Arbeitsgemeinschaft der Kunstvereine (ADKV) und der Messe Art Cologne.
Mit 400 Mitgliedern ist er nicht ganz klein, personell aber bescheiden ausgestattet: Hoffmann ist quasi Mädchen für alles, unterstützt durch Honorarkräfte und eine halbe Stelle für die Finanzbuchhaltung. Im Gegenzug hat er die Freiheit, das Jahresprogramm mit unverkennbarer, politisch grundierter Handschrift zu prägen: Stets ist die Position der Kunst als kritisches Gegenmodell oder Defizite aufzeigende Kraft gefordert. Denn ein Kunstverein, so Hoffmann, ist keine Galerie, er soll nicht dem Kunstmarkt zuarbeiten, sondern vielmehr die Reflexions- und Erkenntnisebene der Kunst herausarbeiten.
Es gehe also nicht um sensationelle Ausstellungen oder gerade hippe Themen, sagt Hoffmann weiter. Die Rezeption darf dann allerdings trotzdem Spaß machen. So schätzt er auch den vergleichsweise abgelegenen Standort, die andere Seite der Stadt: Dort wird nicht, wie etwa in der Fußgängerzone, in falscher Konkurrenz ums Publikum gebuhlt. Zudem ließ sich in Zeiten von Corona der Schlosspark für eine Freiluftausstellung nutzen.
Mit Verzögerung ist das aktuelle Jahresprogramm „Zukunftsvisionen“ angelaufen. Die erste Ausstellung „Lob der Distanz“ widmete sich dem Phänomen, das unser Leben seit über einem Jahr derart verändert: dem räumlichen und körperlichen Abstand voneinander. Der Kulturtheoretiker Bazon Brock erkannte darin gleich den Beginn einer verantwortungsbewussten Weltzivilisation, zumindest aber ein Ende des Terrors privatisierter Attitüden. Als Versuchsaufbau einer noch zu verfeinernden Distanz diente in Wolfsburg Ilka Meyers Installation „Gegenüber“: zwei hölzerne Hochsitze, die zu ungewohnten visuelle Perspektiven herausfordern.
„Das Unerwartete“: bis 12. 9., Kunstverein Wolfsburg;
https://kunstverein-wolfsburg.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen