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Archiv-Artikel

Wie die Masse ins Universum kam

PHYSIK Das Kernforschungszentrum Cern in der Nähe von Genf gibt eine wissenschaftliche Sensation bekannt: die Entdeckung des sogenannten Gottesteilchens. Es ist das Higgs-Boson. Es zeigt, was die Welt im Innersten zusammenhält

Die Entdeckung wurde ermöglicht durch die wohl komplexeste Maschine der Menschheit

VON INGO ARZT

BERLIN taz | Wenn Wissenschaftler weinen, dann ist etwas Besonderes passiert. Am Kernforschungszentrum Cern hatten am Mittwoch wohl alle das Gefühl, einem ganz großen Menschheitsmoment beizuwohnen. Wie in einem Fußballstadion würde es hier zugehen, kommentiert ein Physiker. Die Präsentation zuvor wurde in alle Welt per Livestream übertragenen. Vermutlich hat sie nur ein winziger Bruchteil der Menschheit verstanden.

„Ich würde sagen: Wir haben es geschafft“, jubelte Cern-Generaldirektor Rolf Heuer. Sie haben also das „Gottesteilchen“ gefunden, in Fachkreisen geläufiger unter dem Namen Higgs-Boson. Sein Ehrennamen erhielt es, weil der Nobelpreisträger Leon Ledermann 1993 ein Buch über Teilchenphysik veröffentlichte, das er „The God Damn Particle“ nennen wollte – das gottverdammte Teilchen. Sein Verleger schlug vor, „Damn“ zu streichen – das Buch hieß „Das Gottesteilchen“. Seinen richtigen Namen erhielt es von dem schottischen Physiker Peter Higgs, der es 1964 mit anderen Kollegen postulierte. Er wollte eine simple, existenzielle Frage erklären: Wie kommt es, dass Teilchen eine Masse haben? Damit ist das Higgs das zentrale Teilchen im Theoriegebilde des Standardmodells, in der Theorie der modernen Physik. Sie erklärt, wie sich aus den 12 Elementarteilchen und vier Grundkräften des Universums die uns bekannte Welt aufbauen kann. Higgs selbst war zu Tränen gerührt: „Ich hätte nie gedacht, dass das noch zu meinen Lebzeiten passiert“, sagte der 83-Jährige über die Entdeckung. Es gilt als wahrscheinlich, dass er gemeinsam mit anderen Physikern, die hinter der Theorie des Teilchens stehen, demnächst mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in die Detektoren ein Messfehler eingeschlichen hat, geben die Wissenschaftler mit kleiner als eins zu einer Million an. Zudem haben zwei unterschiedliche Detektoren am Cern dasselbe Ergebnis geliefert.

Damit gelten die Messungen als Entdeckung. Das beobachtete Teilchen besitzt genau die in der Theorie vorhergesagt Masse des Higgs-Teilchens. Möglich machte die Entdeckung die wahrscheinlich komplexeste Maschine in der Geschichte der Menschheit. Jahrzehntelang bastelten Wissenschaftler aus aller Welt an der Anlage, die unterirdisch in einem 27 Kilometer langen Ringtunnel an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz verläuft. Hans Magnus Enzensberger prägte dafür den Begriff „Kathedrale der Physik“, um nicht nur das Ausmaß der Tunnelröhren zu beschreiben, sondern auch die geradezu religiösen Erwartung der Öffentlichkeit an die Wucht der Erklärungen über grundsätzliche Seinsfragen zu beschreiben.

Der frenetische Jubel der Wissenschaftler zeigt deshalb auch, unter welchem Druck man im Cern stand. Nicht nur wegen der amerikanischen Konkurrenz. Ein ganzes physikalisches Weltbild stand auf dem Spiel. Wäre das Higgs nicht entdeckt worden, bliebe ein großes Loch, sagte kürzlich der Chef des Cern. Peter Higgs selbst drückt es gegenüber der taz so aus: „Das würde bedeuten, dass ich Dinge nicht mehr verstehe, die ich bisher geglaubt habe zu verstehen.“