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: Dabei wäre es schön, wenn überhaupt mal jemand redete

Ist überhaupt noch jemand da?“, fragt die Dozentin, als die dritte Frage in Folge unbeantwortet bleibt. Seit der Coronapandemie teilen sich Stu­den­t*in­nen in zwei Lager: die, die ihr Video einschalten und die, die es ausgeschaltet lassen. Die Gesichtslosen signalisieren von vornherein: Ich habe keinerlei Intention, mich zu beteiligen.

Das Gros der Teil­neh­me­r*in­nen lässt ihr Video aus: keinen Bock, unvorbereitet, treibt unterdessen anderes, schiebt Verbindungsprobleme vor. Auch ich bin versucht, meine Kamera auszulassen, wann immer ich nicht adäquat vorbereitet bin oder die Texte nicht gelesen habe. Konnten wir uns vor der Pandemie allenfalls mental ausklinken, bietet das seltsame digitale Soziotop, in das wir hineingezogen worden sind, die Option, uns richtiggehend auszuschalten, ein Name zu sein, ohne Stimme und Gesicht. Nie fiel es leichter, passiv zu bleiben: Die Stimmschaltung auszuschalten und freie Assoziation zu betreiben, scheint ein unüberwindbares Hindernis. Wenn überhaupt ringen wir uns dazu durch, virtuell die Hand zu heben und sprechen, sobald die Sitzungsleitung oder die Dozenten uns dazu auffordern. Damit auch ja nicht alle auf einmal reden, dabei wäre es schön, wenn überhaupt mal jemand redete, reinredete, dazwischen, am Thema vorbei.

Ich besuche wöchentliche Kachelveranstaltungen mit Kommiliton*innen, in deren Angesicht ich in einem halben Jahr noch kein einziges Mal geschaut habe: „Wer bist du, Louisa Kerner“, möchte ich rufen, „sag was, zeig dich.“ Aber Louisa zeigt sich nicht und sagt auch nichts, ist hier nur aufgrund des Leistungsnachweises. Wir müssen anwesend sein (na ja) und wenigstens einmal im Semester das Wort ergreifen: eine Sitzung leiten, inklusive Fragekatalog und Präsentation.

„Welche waren eure Leseeindrücke?“, frage ich, als ich dran bin, eine Sitzung über Nanni Balestrini zu leiten. „Also zu Form und Stil, auch im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur Gruppo 63?“ Auf Stimme folgt Stille. „Es wäre schön, wenn ihr etwas dazu sagen könntet.“ „Na, jetzt werden doch wohl hoffentlich alle etwas sagen können“, springt die Dozentin mir bei, „denn die Texte werden doch wohl hoffentlich alle gelesen haben.“ „Und wenn nicht“, sage ich, „wäre es ebenfalls gut, das zu sagen, denn ansonsten wird das Ganze hier sehr zäh.“

„Dem kann ich nur beipflichten“, erwidert die Dozentin. Alle anderen bleiben stumm, immer mehr Videos werden ausgeschaltet: Lieber würden sie sich die Ellenbogen an ihren Tischkanten abschleifen, als Versäumnisse zuzugeben. „Also meins war’s nicht“, sagt einer, „so ganz ohne Interpunktion, also, ich habe mich dann auch gefragt, wie’s wäre, wenn die Kommata und Punkte statt gar nicht einfach falsch gesetzt worden wären. Und ich glaube, dann wär’s genauso schlimm.“ „Und könntest du sagen“, frage ich ihn, „woran es liegt, also dein Empfinden?“ Kann er nicht und so führe ich die verbleibenden fünfundsiebzig Minuten eine Art Selbstgespräch: stelle die Fragen, gebe die Antworten, denke: Es hat einen Grund, dass es in meiner Generation keine Klassenkämpfe mehr gibt. Als alles vorbei ist, zollen mir klatschende Emoji-Hände Tribut.

Marielle Kreienborg