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Zwischen den Bildern

Polina Barskova forscht über die Literatur der Leningrader Blockade und geht dieser traumatischen Zeit auch in ihren eigenen Texten nach. „Lebende Bilder“ ist ihr erster Prosaband

Polina Barskova: „Lebende Bilder“. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 218 S., 22 Euro

Von Katharina Granzin

Für Polina Barskova ist es wohl in mancher Hinsicht ein Glück gewesen, in der Sowjetunion geboren zu werden, denn gezielte Nachwuchstalentförderung auch im künstlerischen Bereich stand dort ziemlich weit oben auf der politischen Agenda. Mit acht Jahren begann das Mädchen Polina, Gedichte zu schreiben. Sie besuchte jahrelang eine kreative Schreibschule für Kinder, die von einem renommierten Lyriker geleitet wurde, und veröffentlichte ihren ersten Gedichtband mit fünfzehn.

Das war 1991. Seitdem sind zahlreiche weitere Lyrikbände erschienen, ein paar davon auch in englischer Übersetzung, denn die Autorin lebt seit Mitte der neunziger Jahre in den USA, wohin sie damals zum Studium der Slawistik ging und wo sie heute als Dozentin für russische Literatur arbeitet. Im Laufe dieser Tätigkeit hat Barskova ein profundes Interesse an der Zeit der Blockade von Leningrad (September 1941 bis Januar 1944) durch die deutsche Wehrmacht entwickelt. Sie forscht und lehrt zu Literatur und Literaten aus jener traumatischen Phase sowjetischer Geschichte, zu der sie selbst vorher eigentlich keinen direkten persönlichen Bezug hatte.

Zwar ist Barskova in Leningrad geboren und aufgewachsen, in ihrer Familie aber hatte niemand die Blockade selbst miterlebt. Allgemein zieht man es in Russland eher vor, über viele allzu unerträgliche Details (zum Beispiel den Kannibalismus, den es während der Hungerwinter in der abgeriegelten Stadt gab) zu schweigen, um die große Heldenerzählung über den beispiellosen Opfermut der Bevölkerung nicht zu gefährden.

Da Literatur für Barskova nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung, sondern eben auch kreatives Ausdrucksmittel ist, spielt folgerichtig das Blockadethema auch in ihrer literarischen Produktion mittlerweile eine große Rolle. „Lebende Bilder“ ist das erste Buch der Autorin, das in deutscher Übersetzung erschienen ist (von Olga Radetzkaja mit großer sprachlicher Sorgfalt besorgt und mit einem ebenso engagierten wie kundigen Nachwort versehen). Es ist eine Art Prosaband, wenngleich diese Bezeichnung etwas unter Vorbehalt gestellt werden muss, denn zum einen handelt es sich bei dem titelgebenden und längsten Text des Buches um ein Theaterstück. Und die anderen Beiträge mögen zwar in fließender Textform gestaltet sein, doch macht das aus ihnen noch lange keine Erzählungen; eher sind es lyrische Prosa-Miniaturen.

In diesen oft enigmatischen, hintergründig assoziativen Texten treten, wie Schemen aus der Vergangenheit, zahlreiche Gestalten aus der russischen/sowjetischen Literaturgeschichte auf, oder genauer: der Leningrader Literaturgeschichte. Andere Texte tauchen tief hinab in sehr persönliches Erleben und Erleiden, werfen kreiselnde Gedankenlichter auf Erinnerungen an Liebe, Lust und Schmerz. Masochistische Erfahrungen blitzen auf, eine Missbrauchsgeschichte wird wiederholt thematisiert. Jene Texte, in denen diese radikale Subjektivität sichtbar wird, gehen nicht durchweg gut zusammen mit solchen, die ihre Assoziationsmacht eher aus der Literaturgeschichte beziehen. Die Nähe, in der das alles beieinandersteht, macht es einander seltsam ähnlich; und dabei entstammen die Erlebniswelten doch gänzlich verschiedenen Kosmen.

In der Eremitage: hungernde Menschen und gleichmütige Kunst

Man mag gegen diesen Vorbehalt einwenden können, dass ebendies die Kraft eines genuin lyrischen Verfahrens ausmache: Unverbundenes allein kraft der Sprache zu verbinden. Das stimmt sicher; aber dass jemand über das Vermögen dazu verfügt, heißt nicht, dass das Ergebnis nicht auch eigenartig berühren mag. Dass nun dieser gemischte Eindruck entstehen kann, ist wohl in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass „Lebende Bilder“, das Stück, nicht umfangreich genug ist, als dass man allein daraus ein ganzes Buch hätte machen können.

Es wäre ein schönes Heft geworden; eines, in dem man der Geschichte eines Liebespaars nachspüren kann, das im Blockadewinter in einem Ausstellungssaal der eisigen Eremitage ausharrt. (Auszüge aus Tagebüchern des während der Blockade gestorbenen Künstlers Moissej Waxer und anderen persönlichen Dokumenten sind in das Stück eingeflossen.) Der fast absurde Kontrast, der zwischen den hungernden, frierenden Menschen in ihrer existenziellen Hilflosigkeit und der großartigen, lebendigen und dabei absolut gleichmütigen Kunst besteht, die sie umgibt, bildet die Grundierung für ein tragisch-poetisches Kammerspiel, in dessen Dialogen viele jener Dichter und Dichterinnen zitiert und evoziert werden, die im Leningrad der Blockadezeit lebten und schrieben.

In Russland scheint Polina Barskova mit ihrem Stück einen Nerv getroffen zu haben. Das Moskauer Theater der Nationen jedenfalls hat „Lebende Bilder“ seit nunmehr fünf Jahren auf dem Spielplan.

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