: „Ich konnte mir Kritik erlauben“
ZEITGESCHICHTE Helga Picht war die einflussreichste Koreanistin der DDR und Dolmetscherin Erich Honeckers. Mittlerweile darf sie als erklärte Befürworterin der Demokratie nicht mehr nach Nordkorea einreisen
■ Die Forscherin: Picht war die einflussreichste Koreanistin der DDR. 1959 legte sie als erste Deutsche an der Ostberliner Humboldt-Universität ein Diplom in Koreanistik und Japanologie ab. Sie verbrachte mehrere Jahre in Nordkorea. Ihre Dissertation schrieb sie über den Klassenstandpunkt der nordkoreanischen Arbeiterpartei und habilitierte über den Marxismus-Leninismus in Nordkorea.
■ Die Karriere: 1986 wurde sie auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Koreanistik in Ostberlin berufen. Bei Staatsbesuchen dolmetschte sie unter anderem für Erich Honecker und Kim Il Sung. Seit ihrem Ausscheiden aus dem Hochschuldienst übersetzt sie koreanische Literatur ins Deutsche. Momentan arbeitet sie an der Übersetzung des zehnbändigen Romanzyklus „Land“ von Pak Kyongni.
INTERVIEW KATHARINA BORCHARDT
sonntaz: Frau Picht, dieses Jahr wurde in Nordkorea der 100. Geburtstag des 1994 verstorbenen Kim Il Sung gefeiert. Im Fernsehen waren Militärparaden und der Test einer Langstreckenrakete zu sehen. Haben Sie die Feierlichkeiten verfolgt?
Helga Picht: Ich verurteile es, dass die jetzige nordkoreanische Führung immer wieder militärische Stärke zu demonstrieren versucht. Das ist eine Sünde an dem in äußerster Armut lebenden Volk. Traurig macht mich aber auch die ständige negative Berichterstattung über Nordkorea. „Auch dort leben Menschen“, schrieb der bekannte südkoreanische Schriftsteller Hwang Sok Yong, nachdem er 1989 nach Nordkorea gereist war. Das ist ein Satz, den ich sehr wichtig finde.
1952 haben Sie angefangen, an der Berliner Humboldt-Universität Koreanistik zu studieren. Warum haben Sie sich für dieses Fach entschieden?
Zunächst habe ich Sinologie studiert. Wir waren damals begeistert von der Revolution in China! Der Lehrplan aber verlangte das Erlernen einer zweiten ostasiatischen Sprache. Japanisch kam für mich zunächst nicht infrage, denn die Japaner waren mit Hitler verbündet gewesen. Doch Korea hat uns unheimlich interessiert. Wir hatten im Rahmen der ostdeutschen Friedensbewegung gegen den Koreakrieg protestiert. Als ich dann die Möglichkeit hatte, während des Studiums nach Nordkorea zu gehen, habe ich mich schließlich ganz für die Koreanistik entschieden.
Wen meinen Sie hier mit „wir“?
Damit meine ich mich und andere junge DDR-Bürger, die sich mit den Koreanern solidarisch fühlten und die Intervention der Amerikaner verurteilten.
War die Koreanistik in der DDR generell eher politisch und weniger auf Literatur und andere Künste ausgerichtet?
Nein, das war nur bei mir so. Meine Kollegen haben sich in erster Linie mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt. Aber auch ich habe meine Diplomarbeit über klassische koreanische Literatur geschrieben, und auch später habe ich Vorlesungen und Vorträge zur modernen Literatur gehalten. Da ich seit den 60er Jahren aber bei Staatsbesuchen gedolmetscht habe, wurde meine Forschung immer politischer. Ich war ja maßgeblich an der Gestaltung der Beziehungen zwischen der DDR und Nordkorea beteiligt.
Stimmten Sie sich mit den führenden Koreanisten aus der UdSSR ab? Oder konnten Sie in der DDR ganz eigene wissenschaftliche und politische Standpunkte entwickeln?
Abgestimmt haben wir uns nicht, aber wir haben uns sehr an den sowjetischen Koreanisten orientiert. Jegliches Lehrmaterial, das ich in meinem Studium verwendet habe, kam ja aus der Sowjetunion, sowohl die Sprachlehrbücher als auch die literarischen Übersetzungen. Wir hatten eine grundsätzlich positive Einstellung der Sowjetunion gegenüber, und die Studienmaterialien, die von dort kamen, waren fachlich hervorragend.
Die Russen waren damals führend, wenn es um die Übersetzung nordkoreanischer Literatur ging. Ins Deutsche aber wurde kaum etwas übertragen. Warum?
Wir haben schlichtweg nichts Interessantes gefunden. Man schlug mir und meiner Kollegin Reta Rentner vor, einige der vielen Heldengeschichten um den Großen Führer Kim Il Sung zu übersetzen. Aber das haben wir abgelehnt. Wir wollten ja nicht unfreiwillig antinordkoreanische Propaganda betreiben.
Sie haben in der DDR oft eine Lanze für die Nordkoreaner gebrochen?
Ja. In meiner Dissertation und meiner Habilitationsschrift habe ich zum Beispiel kritisiert, dass die Koreaner bei uns oft mit den Chinesen und ihrer argen Kulturrevolution in einen Topf geworfen wurden. Ich konnte mir solch eine Kritik erlauben, denn ich war ja in gewissem Sinne unangreifbar.
Warum waren Sie unangreifbar?
Weil ich lange Zeit die einzige Koreanischdolmetscherin der DDR war. Wenn Erich Honecker Nordkoreaner traf, dann machte er das nur, wenn ich dabei war. Letztlich wusste er ja auch, dass ich zur DDR stehe. Daran gab es – trotz aller Kritik – überhaupt keinen Zweifel.
Was für Kritikpunkte hatten Sie an der DDR?
Ich war davon überzeugt, dass Sozialismus ohne Demokratie nicht möglich ist. Diese Position habe ich auch in all meinen wissenschaftlichen Arbeiten – intern oder öffentlich – vertreten. Durch meine Tätigkeit als Dolmetscherin erlebte ich aber, dass sich die führenden Funktionäre der SED, die sich unser Vertrauen durch ihre antifaschistische Vergangenheit erworben hatten, immer weniger um solche Prinzipien kümmerten, sondern vor allem um den Erhalt ihrer eigenen Pfründe. Leute wie Erich Honecker und Willi Stoph wollten irgendwann gar nicht mehr wissen, wie das reale Leben war.
Und was für interne Analysen haben Sie geschrieben? Für wen? Und worüber?
Ich habe zwischen 1968 und 1978 für das Außenministerium der DDR interne Analysen zur Geschichtsschreibung in der KDVR, zur Juche-Ideologie, zur Rolle der Gesellschaftswissenschaften und zum nordkoreanischen Siebenjahresplan 1970–1977 geschrieben. Nach 1980 leitete ich das Projekt „Sozialismus in Asien“, dessen Manuskript 1988 fertig vorlag, aber dann schnell zur Makulatur wurde.
Haben Sie dem Ministerium für Staatssicherheit zugearbeitet?
Natürlich hatte ich als Spitzendolmetscherin und Hochschullehrerin Kontakte zu den Sicherheitsorganen. Ich habe mich aber immer nur zu politischen Fragen geäußert und keine Aussagen zu Einzelpersonen gemacht. Dazu bin ich auch niemals aufgefordert worden.
Sie haben die nordkoreanische Arbeiterpartei in internen Papieren, aber auch in öffentlichen Texten kritisch beleuchtet. Was waren Ihre Kritikpunkte?
In Nordkorea habe ich erlebt, dass jede noch so kleine Angelegenheit von ganz oben abgesegnet werden musste. Außerdem haben die Nordkoreaner ihre eigene Geschichte dauernd umgeschrieben. Es gab und gibt deshalb kaum verlässliche Quellen zur Geschichte der nordkoreanischen Arbeiterpartei. Und der Personenkult um Kim Il Sung war für uns in der DDR natürlich auch äußerst befremdlich – auch wenn ich Kim Il Sung persönlich eigentlich für einen sehr klugen Mann gehalten habe.
Kim Il Sung war ein Diktator, unter dem der nordkoreanische Nationalismus gedieh und der politische Gegner in Lagern internieren ließ. Inwiefern fanden Sie ihn klug?
Ich sehe seine Klugheit vor allem darin, dass er an der Spitze einer Entwicklungsdiktatur den Nordkoreanern für etwa 25 Jahre bescheidenen, aber ständig wachsenden Wohlstand gesichert hat. Ansonsten rede ich nur über Dinge, die ich selbst gesehen oder erlebt habe. Ich aber habe keines der nordkoreanischen Lager besucht, über die heute so gern gesprochen wird.
Glauben Sie denn, dass es diese Lager, von denen nordkoreanische Flüchtlinge berichten, gar nicht gibt?
Doch, es gibt sie sicher, aber ich bin misstrauisch gegen die Aussagen der Flüchtlinge, weil man nicht nachprüfen kann, was sie erlebt haben und aus welchen Gründen sie wirklich aus Nordkorea geflohen sind.
Bei Ihrem letzten Versuch, nach Nordkorea zu reisen, hat man Ihnen das Visum verwehrt. Das war 2001. Warum?
Wegen meiner Dolmetschertätigkeit durfte ich früher keine Einladungen nach Südkorea annehmen. Das wurde erst 1990 möglich. Ich war sehr überrascht, dass man mich in Südkorea sehr freundschaftlich empfing. Die Südkoreaner akzeptierten, dass ich dem Norden gegenüber nicht feindlich eingestellt bin, und so fasste ich Vertrauen und äußerte mich auch in der Öffentlichkeit ganz aufrichtig. Ich sagte, dass die DDR implodiert sei, weil es an Demokratie mangelte. Gleichzeitig hob ich hervor, dass der Osten Deutschlands im Vergleich zum Norden Koreas geradezu ein Hort demokratischer Verhältnisse gewesen sei. Das hat den Nordkoreanern sicherlich missfallen. Heute kann ich dank der Unterstützung durch staatliche und nichtstaatliche Institutionen in Südkorea und Japan meine wissenschaftliche und übersetzerische Arbeit fortsetzen.
Würden Sie gern mal wieder nach Nordkorea reisen?
Ja, das würde ich gern. Mein Traum wäre es, in Berlin in den Zug zu steigen, nach Moskau zu fahren, dann weiter über Irkutsk nach Peking, anschließend nach Pjöngjang und weiter bis nach Seoul.
Wenn Sie bis nach Seoul fahren wollen, muss sich Ihr Südkorea-Bild aber sehr gewandelt haben. 1980 schrieben Sie noch, Südkorea habe bloß „wechselnde Diktatoren von Washingtons Gnaden“.
Mein Bild hat sich schon Ende der 70er Jahre zu differenzieren begonnen, als wir die ersten Studienmaterialien aus Südkorea bekamen. Die waren anfangs sehr ideologisch, doch ab Anfang der 80er Jahre erhielten wir wissenschaftlich verlässlichere Unterlagen. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre setzte dann der Demokratisierungsprozess in Südkorea ein. 1987 fanden dort die ersten freien Wahlen nach dem Ende der Militärdiktatur statt. Hinzu kam die wirtschaftliche Entwicklung, und so konnte sich Südkorea kulturell und geistig hervorragend entfalten. Dass das im gleichen Zeitraum in Nordkorea genau umgekehrt gewesen ist, macht mich umso trauriger.