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Archiv-Artikel

„Wir sind eine starke Gesundheitsregion“

Die Gesundheitswissenschaftlerin Michaela Evans schätzt, dass in NRW bis zum Jahr 2015 rund 200.000 neue Jobs im Gesundheitswesen entstehen können. Eine Koordinierungsstelle von öffentlichen und privaten Trägern sei unerlässlich

taz: Frau Evans, die Gesundheitswirtschaft wird von der Politik gerne als „Boomsektor“ in NRW gesehen. Ist das eine realistische Einschätzung?Michaela Evans: Ich halte die Einschätzung für sehr realistisch. Die Potenziale liegen vor allem im demographischen Wandel, also in der Alterung der Gesellschaft: Die Nachfrage nach gesundheitsbezogenen Leistungen steigt. Wir haben zudem in NRW eine Vielzahl an innovativen Unternehmen und Einrichtungen. Und drittens: Das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung nimmt zu. Immer mehr Menschen haben das Bedürfnis, gesund zu leben. Deshalb investieren sie neben den Ausgaben für die Krankenversicherung zunehmend private Mittel für Gesundheitsprodukte.

Aber was verbirgt sich konkret hinter dem Begriff Gesundheitswirtschaft? Fehlt nicht die konzeptionelle Schärfe?

Man muss unterscheiden zwischen dem Kernbereich der ambulanten und stationären Versorgung, den Vorleistungs- und Zulieferindustrien wie Medizintechnik oder Biotechnologie sowie den Randbereichen. Diese verknüpfen Dienstleistungen aus dem Kernbereich der Gesundheitswirtschaft mit gesundheitsbezogenen Aspekten, zum Beispiel im Bereich betreutes Wohnen. Dahinter verbirgt sich ein Perspektivwechsel: Das Zusammenspiel der Anbieter und ihrer Leistungen rückt ins Zentrum der Betrachtung.

Trotzdem bleibt die Frage, wie die Gesundheitswirtschaft in den kommenden Jahren finanziert werden soll. Schon heute leidet das Gesundheitswesen darunter, dass es immer mehr Leistungsempfänger gibt und die medizinische Versorgung immer teurer wird.

Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Produkte, die die Gesundheitswirtschaft anbietet, zukünftig effizienter und qualitativ hochwertiger erbracht werden. Man darf nicht nur über hochpreisige Produkte reden, sondern muss die Angebote auch bezahlbar machen, damit wir eine möglichst große Zielgruppe erreichen. Gleichzeitig gilt aber auch, dass die Gesundheitswirtschaft nicht nur aus Leistungen besteht, die über die Sozialversicherungssysteme finanziert werden, sondern auch aus einer Vielzahl von privat zu finanzierenden Angeboten und Dienstleistungen.

Welche Rolle spielt die Gesundheitswirtschaft heute in Nordrhein-Westfalen?

Verschiedene Studien zeigen, dass NRW und gerade das Ruhrgebiet sehr gut abschneiden. Nirgendwo gibt es beispielsweise so viele Auszubildende in Gesundheitsberufen wie in der Ruhr-Region. Wir sind eine starke Gesundheitsregion: Die Akteure – in der Politik ebenso wie in der Privatwirtschaft – haben sehr früh erkannt, dass die Gesundheitswirtschaft eine Wachstumsbranche ist. Es gibt hier heute schon eine sehr große Vielfalt – von der Spitzenmedizin über die Life Technologies, wegweisenden Versorgungsmodellen bis hin zur gezielten Unterstützung von Existenzgründern. Aber letztlich wird entscheidend sein, wie viele neue Arbeitsplätze entstehen.

Welches Wachstumspotenzial sehen Sie?

Schon heute arbeitet rund eine Million Menschen in NRW in der Gesundheitswirtschaft. Allein zwischen 1999 und 2003 ist die Zahl der Beschäftigten um 7,1 Prozent gestiegen. Bis zum Jahr 2015 könnten weitere 200.000 Jobs entstehen. Allerdings sollte man darauf nicht einfach warten – von selbst passiert das nicht.

Was muss die Politik tun, damit sich diese Prognose erfüllt?

In einzelnen Feldern der Gesundheitswirtschaft besteht natürlich weiterer Entwicklungs- und Gestaltungsbedarf. Es hat sich gezeigt, dass hierzu insbesondere eine von öffentlichen wie privaten Akteuren getragene Koordinierungsstelle unerlässlich ist. Eine wichtige Herausforderung ist zudem, die Bürokratie im Gesundheitswesen abzubauen. Aber Forderungen an die Politik zu stellen ist nur die eine Sache. Vor allem müssen die Akteure anfangen, konkreter und effektiver zusammenzuarbeiten.INTERVIEW: ULLA JASPER