: Die Krisen, die das Land prägen
Heute öffnet das Arsenal wieder sein Leinwandkino mit der Reihe „What Now? – Vom Umgang mit Zäsuren in aktuellen Filmen aus Portugal“
Von Silvia Hallensleben
„Wenn wir zu Staub werden, wird das Leben erleichtert aufatmen“, sagt eine männliche Stimme aus dem Off in weichem Portugiesisch, während oben ein Düsenflugzeug dicke Kondensstreifen in den blauen Himmel setzt. Mit „wir“ ist die Spezies Homo sapiens gemeint, die sich in ein paar hunderttausend Jahren die Erde so erfolgreich untertan gemacht hat, dass diese bald von Menschen unbewohnbar sein könnte.
Joaquim, der Mann hinter der Stimme, macht da wenig Hoffnung. Parallel hat er seine persönliche Apokalypse und kämpft seit Jahrzehnten gegen HIV und Hepatitis C. Nun zermürben die Nebenwirkungen einer Behandlung mit noch unerprobten Medikamenten bei ihm sichtbar Körper, Seele und Geist.
Joaquim Pinto ist Protagonist und Regisseur des autobiographischen Filmessays „E agora? Lembra-me“ (Und jetzt? Erinner mich), in dem er die eigene Krankengeschichte vielschichtig mit anderen Beobachtungen, Gedanken und Geschichten verwebt – von der Bibel und den Buchmalereien von Francisco de Holanda über medizinhistorische Reflexionen bis zur Schuldenkrise. Dazu das Alltagsleben auf dem Land, wo Joaquim mit seinem Mann Nuno ein privates Aufforstungsprojekt betreibt und mit vier großen Hunden familiäre Beziehungen pflegt.
Pintos starker Film markiert mit vier weiteren weniger umfassend angelegten zeitgenössischen portugiesischen Arbeiten jetzt den Restart des Kinos Arsenal nach acht Monaten Schließzeit. Dabei waren für die (wie andere Kulturbetreibende lange von kräftezehrenden Unsicherheiten geplagten) „Arsenalistinnen“ aber nicht das Thema Krankheit oder virale Infektion Motiv für die Auswahl, sondern – angesichts der pandemischen Zäsur – der filmische Umgang des portugiesischen Kinos mit den die Geschichte des Landes prägenden Krisen und Brüchen.
Schatten des Kolonialismus
In „Luz Obscura“ von Susana de Sousa Dias (2017) ist dies die Diktatur des Estado Novo unter António de Oliveira Salazar, der in den Jahren 1926 bis 1974 Tausende Oppositionelle zum Opfer fielen. Sousa Dias lässt im Audio Angehörige eines damaligen politischen Gefangenen von ihren Erlebnissen und den Auswirkungen auf die Familie erzählen. Dazu stehen im Bild fast kubistisch zwischen Schwarzfilm montierte Fotos des polizeilichen Erkennungsdienstes und Ortsansichten.
Erst nach dem Ende des Regimes endete nach den Unabhängigkeitskriegen und der Nelkenrevolution 1974 auch Portugals fünfhundertjährige Kolonialgeschichte. Deren Nachwirkungen widmet sich Pedro Costas „Vitalina Varela“ (2019), eine expressionistisch durchgestaltete Hommage an seine beeindruckende Titelheldin, die zum Tod ihres Mannes von den Kapverden in die Slums von Lissabon reist (und von ihr selbst gespielt wird).
Neue Formen und Orte von Armut auch für die Mittelschicht brachte dann die Austeritätspolitik der Schuldenkrise, die die namenlose Mutter einer Siebzehnjährigen nach dem Jobverlust des Vaters in Teresa Villaverdes Spielfilm „Colo“ (2017) als Krieg bezeichnet. Die Quellen dieses Krieges bleiben im Film unheimlich unsichtbar, während die letzten Spuren gelingender Kommunikation in der geschmackvoll ausgestatteten Hochhauswohnung der Familie zunehmend zerfallen und aus der pubertären Zickigkeit von Tochter Marta tiefe Ratlosigkeit wird. Aus heutiger, von den Covid-19-Erfahrungen geprägter Sicht zeigt „Colo“ auch an, wie die gewöhnlichen Unannehmlichkeiten kleinfamiliären Zusammenlebens unter verstärktem äußerem Druck implodieren können.
Und auch bei Pedro Cabeleiras „Verão Danado“ (2017) verändert Corona den Blick auf den Film – und legt die Frage nahe, wie es heute den frisch von der Schule gekommenen Jugendlichen ergehen mag, die im Film noch ihre Ratlosigkeit über die Zukunft in den Clubs von Lissabon mit Marihuana, Alkohol, Sex und viel Musik betäuben.
Arsenal, 1. bis 5. Juli
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen