: Seehunde gähnen, wenn sie unbeobachtet sind
Der Dokumentarfilm „From the Wild Sea“ von Robin Petré zeigt die Lebensrealität der Tiere an den Küsten Großbritanniens und der Niederlande
Von Sophia Zessnik
Zwei kugelrunde Augen lugen zwischen Gitterstäben hervor, zu hören ist ein gutturaler Laut – dann ein Fauchen: Der Film „From the Wild Sea“ beginnt mit der Freilassung gestrandeter Heuler – Jungrobben, die von der Mutter getrennt wurden. Das Gitter des Käfigs geht auf und heraus purzeln die Tiere, die die Auffangstation wieder Richtung Meer verlassen dürfen.
„Wir haben versucht, die Perspektive der Tiere zu zeigen und so intime Momente zwischen Mensch und Tier herzustellen“, sagt Regisseurin Robin Petré im Videointerview mit Maryanne Redpath, Leiterin der Berlinale Sektion Generation 14plus. Herausgekommen ist ein Dokumentarfilm, der gleichermaßen verstörend wie berührend ist. In unaufgeregten Bildern zeigt Petré die Lebensrealität von Tieren entlang der Küsten Großbritanniens und der Niederlande. Vom Sturm gebeutelte Robben, von Schiffsschrauben massakrierte und als Beifang wieder entlassene Delfine, gestrandete Wale, ölverschmierte Vögel: Das Leben dieser Tiere ist geprägt von den Umweltsünden der Menschen. Ohne sie gäbe es für die ehrenamtlichen Helfer*innen, die Petré begleitet, nichts zu tun.
Ein sich elendig wiederholender Kreislauf, dem die Freiwilligen keine präventiven Maßnahmen entgegensetzen können. In ihrer Macht steht nur, die Schäden, die Klimawandel und Industrie anrichten, zu lindern. Eine ihrer Aufgaben ist es, die Tiere von Ölresten zu befreien, die besonders für Vögel zur Qual werden, verkleben sie doch ihr Gefieder und hindern sie am Fliegen. In einem aufwändigen Verfahren wird eine Gruppe Schwäne gereinigt; erst hebt sich das verschmutzte Federkleid deutlich von den Schaumflocken ab, bis es selbst wieder in makellosem Weiß erstrahlt.
Petré und Kamerafrau María Grazia Goya folgen dem Geschehen stoisch, halten kleine Ewigkeiten an Szenen fest. Die Farben ihrer Bilder sind kühl, sodass es ein Leichtes ist, sich in die stürmischen Gefilde der Küste zu versetzen.
Sie habe die Kollision zwischen Mensch und Natur zeigen wollen, sagt Petré. Doch sei das auch eine Geduldsprobe gewesen, schließlich wüsste man nicht, wann das nächste Tier strande. Dass sich die Geduld gelohnt hat, zeigt eine Sequenz über einen gestrandeten Wal. Starke Stürme, die im Winter die englische Küste heimsuchen, müssen das Tier so weit an den Strand getragen haben, dass es nicht mehr zurückkam. Nun liegt der 19 Meter lange Meeressäuger da; Blut tropft aus diversen Wunden und vermischt sich als einziger Farbklecks mit dem Dunkel der Wellen.
Petré und ihr Team kommen den Tieren so nah, dass man glaubt, ihren Empfindungen folgen zu können. Sobald die Seehunde sich unbeobachtet fühlen, rollen sie sich auf die Seite, gähnen oder tauchen in der bereitgestellten Badewanne. Auch der Ton ist stets auf die Tierperspektive eingestellt: Taucht eine Robbe ab, sind die umliegenden Geräusche nur mehr dumpf wahrnehmbar. Taucht sie wieder auf, wird der Sound klarer.
„From the Wild Sea“ lässt einen mit Demut zurück, vor der Natur und den Lebewesen, mit denen wir diese teilen. Petrés erster abendfüllender Dokumentarfilm ist auch eine Mahnung dafür, dass Symptome zu lindern langfristig nicht genug sein wird, sondern es Zeit wird, aktiv vorzubeugen.
17. 6., 21.45 Uhr, Freiluftkino Filmrauschpalast
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