Irving Kristol, der Pate der Neocons, ist tot

Er war in seinem Leben Neomarxist, Neotrotzkist, in Religionsdingen zuletzt ein Neoorthodoxer und in die Geschichte wird er eingehen als der „Godfather“ (The New York Times) des Neokonservativismus. Und jetzt ist er ein Neototer. Denn Irving Kristol, eine der schillerndsten intellektuellen Figuren Amerikas, starb vergangenen Freitag in Washington.

An Denkern ist der moderne Konservativismus ja nicht besonders reich. So nimmt es nicht wunder, dass die geistige Strömung, die Kristol mit einer Handvoll Mitstreitern begründete, bemerkenswerten Einfluss in der Gedankenwelt von Mitte-rechts bis scharf rechts ausübte. Kristol war sich dieser Bedeutung gewiss. „Ideen haben Folgen, wenn auch auf mysteriösen Wegen“, schrieb er einmal. Ohne seinen geistigen Einfluss hätte es keinen Präsidenten Ronald Reagan gegeben. Er prägte die Gedankenwelt der Präsidentschaft von George W. Bush, seine Thesen hatten Strahlkraft über die USA hinaus.

Dabei war Kristol in den Dreißigerjahren noch ein radikaler Linker gewesen. Wie sein Kumpel Norman Podhoretz hing er einer lokalen New Yorker Spielart des Trotzkismus an. Den Antistalinismus und den revolutionären Elan bewahrte er sich, als er sich in den Fünfzigerjahren den Demokraten anschloss. In den Sechzigerjahren, als die Demokraten unter Lyndon B. Johnson einen Sozialstaat errichten wollten, sich auf die Seite der Bürgerrechtsbewegung stellten und sich auch Kräften der linken Gegenkultur öffneten, machten Kristol und seine Mitstreiter aber einen scharfen Schwenk nach ganz rechts. Sie hießen fortan „Neocons“, und das Präfix „Neo“ wollte damals ausdrücken, dass diese Leute neu ins rechte Lager gestoßen waren.

Aber sie waren nicht nur ehemalige Linke, die sich zu Konservativen wandelten, sondern sie wandelten auch den Konservativismus. Sie wechselten ihre Überzeugungen, aber nicht den Habitus. Mental blieben sie Radikale. Kristol prägte die berühmte Formel, ein Neokonservativer sei ein Liberaler, „der von der Realität überfallen wurde“. Also: ein Linker, der einsah, dass das in der Wirklichkeit mit dem Linkssein nicht klappt.

Letztendlich war es die Studentenrevolte, die Kristol nach rechts trieb. Sie machte in seinen Augen eine „Gegenkultur“ salonfähig, verdarb die Arbeiterbewegungslinke und mündete schließlich in eine „nihilistische Antikultur“. Kristol war aber klug genug, zu sehen, dass der moderne Kapitalismus mit seiner hedonistischen Konsum- und Entertainmentkultur selbst „Laster“ und „Vulgarität“ ausbrütete. So trommelte er dafür, dass eine freie Marktwirtschaft nur überleben kann, wenn die Politik eine starke Moral hochhalte: Liberalismus in der Wirtschaft, Ultrakonservativismus in gesellschaftlichen Belangen.

Diese „Werte“ sah er von allen Seiten bedroht, womit er einer gewissen Paranoia Tür und Tor öffnete. Bei aller Schwarz-Weiß-Malerei bewahrte Kristol aber immer ein intellektuelles Niveau, von dem man bei den meisten moderaten Konservativen nur träumen kann.

Am 18. September ist er im Alter von 89 Jahren in Washington gestorben. ROBERT MISIK