: Skandal! Skandal für Angie
Kann vorkommen – oder völlig verkommen? Skandale sind immer ein Hinweis auf Missstände – und Anstoß zu Reformen. Der VW-Skandal zeigt: Union und FDP haben da einiges von Rot-Grün gelernt
VON ROBIN ALEXANDER
Der Skandal bei VW lohnt der Mühe näherer Betrachtung, auch wenn man sich nicht für die internationale Automobilwirtschaft, die Besonderheiten der niedersächsischen Mitbestimmung oder brasilianische Prostituierte interessiert. Denn er gibt einen Vorgeschmack auf das, was uns nach einem konservativ-liberalen Wahlsieg bei der Bundestagswahl erwartet. Was haben Einkaufsgutscheine für die Ehefrauen von Betriebsräten mit einer Regierung Merkel zu tun? Viel, denn Deutschland wird seit ein paar Jahren von Skandalen regiert. Und es scheint, als hätten Union und FDP dies begriffen.
Stimmt das wirklich: Gab es Skandale nicht immer und überall? Nein. Der Skandal ist Wesensmerkmal freier Gesellschaften. Totalitäre Staaten kannten, wenn überhaupt, nur inszenierte Skandale. Hier wurden einzelne oder bestimmte Gruppen von einem monolithischen System über dessen Subsysteme Presse und Justiz aus dem Verkehr gezogen und oft öffentlich entwürdigt.
Die Skandaldichte einer Demokratie wie der Bundesrepublik dagegen nimmt zu, je offener und pluraler sie wird. Wenn sich Skandale häufen, klagen die Boulevardmedien gerne, die Gesellschaft als Ganzes sei verkommen. Die Klage ist so heuchlerisch wie falsch. Indem ein Missstand öffentlich als solcher erkannt wird, ist der erste Schritt zu seiner Behebung getan.
Nehmen wir den BSE-Skandal. Wer will es wirklich gutheißen, dass Bauern an ihre Kühe nicht Heu, sondern gemahlene Tierkadaver verfüttern und damit erst die Kühe und dann die Menschen krank machen? Niemand. Und mithilfe einer erst medialen und dann wirklich öffentlichen Empörung gelang es tatsächlich, diesen Missstand zwar nicht zu beheben, aber wenigstens anzugehen. Die Agrarlobby verlor am Ende sogar ihren traditionellen Lobbyisten am Kabinettstisch, und die Bürger bekamen eine Verbraucherministerin. Ein schönes Beispiel, doch trägt es bereits den Kern der neuen, bedrohlichen Skandalkultur in sich. Denn die Einsicht, die Landwirtschaftspolitik zu ändern, gab es bei Teilen der SPD und den Grünen schon vor BSE. Aber trotz einer rot-grünen Regierung konnte dieser politische Wille nicht Reform werden: Der Widerstand der Agrarlobby konnte erst über die Bilder verrückter Kühe gebrochen werden.
Selbst das Kernprojekt der zweiten rot-grünen Legislatur brauchte einen Initialskandal: Erst als herauskam, dass die Bundesanstalt für Arbeit ihre Statistiken fälschte, war es möglich, die Arbeitsmarktpolitik zu reformieren. Auch hier hat die Einsicht auf den Anlass gewartet. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Republik ist von Interessengruppen so blockiert, dass erst ein Skandal die Möglichkeit zu Politik überhaupt schafft. Gerhard Schröder hat das als Erster verstanden und genutzt. Obwohl im Einzelfall befreiend, hat diese Methode doch ihre Tücke: Eine Regierung, die auf Skandale in einzelnen Gesellschaftsteilen geradezu wartet, um hier überfällige Reformen anzugehen, pervertiert den demokratischen Skandal. Sie rückt ihn gefährlich nahe an den „totalitären Skandal“, der ja auch mit dem Wohlwollen der Regierung öffentlich wird.
Viel deutet darauf hin, dass die Konservativen bei Rot-Grün gelernt haben. Der Visaskandal, der hochgezogen wurde, um Joschka Fischers Popularität anzukratzen, ist dafür noch kein Beispiel: Hier gab es einen – längst behobenen – Misstand, aber keine reformfällige Struktur. Bei VW ist das jetzt erstmals anders: Es gibt einen politischen Willen, die Konzernstruktur zugunsten der Kapitalseite zu verändern. Der niedersächsische Landeschef Christian Wulff will die Missstände in Betriebsrat und Vorstand offenkundig dafür nutzen. Als Aufsichtsratsmitglied schwingt er sich in die Position eines Richters, indem er etwa Hartz’ Rücktritt sofort annimmt, während der FDP-Politiker Kubicki als Anwalt einen Mandaten vertritt, der den Großteil des Beweismaterials liefert.
Offensichtlich: Hier soll mit einem Skandal Politik gemacht werden. Das erklärt den Reflex von Gegnern dieser Politik, den Skandal klein- oder wegzureden. Eine Taktik, der kaum Erfolg beschieden sein wird: Es gibt sehr gute Argumente für die VW-Mitbestimmung. Aber keine für Lustreisen.
Ob eine Bundesregierung unter Angela Merkel versuchen wird, die Öffentlichkeit langfristig von ihrer Politik zu überzeugen oder ebenfalls nur die kurzfristige Empörung über Skandale nutzen wird, ist offen. Ihre persönliche Erfahrung spricht für Letzteres: Es hätte wohl Jahrhunderte gedauert, die Union mit Argumenten von einer weiblichen, ostdeutschen Parteispitze zu überzeugen. Erst der CDU-Schwarzgeldskandal hat diese Einsicht beschleunigt.