: Der Tastende
Der Philosoph Dieter Henrich ist ein international bedeutender Erforscher des deutschen Idealismus. Nun liegt seine philosophische Autobiografie vor, die den Gang seines Denkens nachzeichnet
Von Rudolf Walther
Dieter Henrich gehört mit Jürgen Habermas, Michael Theunissen und Ernst Tugendhat zu jener kleinen Gruppe deutscher Philosophen, die weltweit wahrgenommen und geschätzt wird, auch wenn Habermas, was die Prominenz betrifft, aus der Gruppe herausragt. Henrich hat sich in den letzten fünf Jahren mit Matthias Bormuth, Professor in Oldenburg, und Ulrich von Bülow zu Gesprächen über sein Leben und seine Philosophie getroffen. Daraus ist ein Buch zu seiner philosophischen Autobiografie entstanden.
Das Bemerkenswerteste an den Gesprächen ist, dass sie nicht nur den Werdegang des Philosophen und seine Werke umfassen, sondern auch seinen Weg zur Philosophie, sein Verhältnis zur Religion, also auch dem, was Henrich „Lebensorientierung“ nennt. Diese gehört für den Philosophen zu den ersten Aufgaben der Philosophie, und die Auseinandersetzung damit durchzieht Henrichs Werk wie ein roter Faden. Er lehrte und forschte sein Leben lang an deutschen und US-amerikanischen Universitäten, aber viele seiner Werke sind alles andere als Universitätsphilosophie, die außerhalb dieser Institution kaum auf Interesse stoßen.
Seine Schul- und Studienzeit verbrachte der 1927 geborene Henrich in Marburg, wo er mit Erich Auerbach, Hannah Arendt, Karl Löwith und Hans Jonas in Kontakt kam. Ganz entscheidend für die Prägung seiner Lebensorientierung waren seine Kindheit und sein christliches Elternhaus. Henrich war ein spätgeborenes Einzelkind. Nach einer Fehlgeburt, die seine Mutter erlitten hatte, starben zwei kleine Geschwister als Babys in der Grippewelle nach 1918.
Der junge Dieter Henrich war für das Elternpaar mehr als eine Hoffnung – eine „Erlösung“, die allerdings getrübt wurde durch Krankheiten, an denen der Junge litt. Die vorbehaltlose Fürsorge und Zuwendung der Eltern empfand der Knabe als „Glückszustand“, der jedoch permanent gefährdet wurde durch die „nihilistische Erfahrung“ in kasernenartigen Krankenhäusern, in denen die Besuche der Eltern einer rigiden Kontrolle unterworfen waren. Den plötzlichen Tod des Vaters mit 57 Jahren erlebte der 11-Jährige als Katastrophe, aber durch die Segnung des Vaters im Sterbebett auch als „letzte Bedeutungsquelle“: „Alles, was ich über die Lebensführung vorlege, sollte sich vor solchen Erfahrungen bewähren können.“
Das Pathos des Nationalsozialismus blieb Henrich ebenso fremd wie die exzentrische Bukolik Heideggers. Henrich erlebte Religiosität – auch dank seiner Mutter – als „unverkürzte Wirklichkeit“, allerdings nicht als kanonische Lehre, sondern als Chance zu lernen, was „die geistige Kraft verständlich macht“. „Frömmigkeit“ gehörte für Henrich jedoch so wenig zu Philosophie wie der „religiöse Kult“. Es ging ihm immer darum, „die kulturelle Tatsache der Religion verstehen zu wollen“, und zwar mit den Mitteln philosophischen Denkens, jenseits von „wissenschaftlicher Ausnüchterung“ oder dem „Predigerton“, also „immer auf Klarheit der Gedanken, Stimmigkeit und allseitiger Ausgewogenheit der Begründungen“ bedacht sowie selbstverständlich auf „verstehende Durchsicht des Lebens statt auf Erhebung, Erlösung oder Heilung des Individuums“. Er suchte nach „tastenden Antworten, die in Erfahrungen und selbst erwogenem Wissen gestützt sein müssen“.
Zu den prägenden Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus gehört Henrichs Gespräch mit dem obersten Marbuger Jungvolk-Führer, der ihm en passant Kants kategorischen Imperativ vermittelte, das heißt, sich keine beliebigen „Wahrheiten“ zu eigen zu machen, „sondern nur den eigenen, selbständigen Einsichten zu folgen“.
Henrich studierte zunächst Urgeschichte und erst danach Philosophie beim Kantianer Klaus Reich und ab 1948 bei Hans-Georg Gadamer, dessen Assistent er in Heidelberg wurde. 1960 wurde er nach Berlin berufen, wo er bis 1965 blieb, bevor er von 1965 bis 1981 wieder nach Heidelberg zurückkehrte, das Collegium Academicum leitete und Philosophie lehrte. Schon in dieser Zeit kümmerte sich Henrich als Forscher um das Erbe und Vermächtnis der klassischen deutschen Philosophie von Kant und Fichte bis zu Hegel, was unter anderem in wichtige Aufsätze einging, die 1967 im Sammelband „Hegel im Kontext“ erschienen sind und das Hegel-Bild der 70er und 80er Jahre prägten.
Sein Ruf als Experte für europäisch-hermeneutische beziehungsweise kontinentale Philosophie beförderten die Berufung Hernrichs an US-amerikanische Universitäten, wo er ab 1968 lehrte und sich mit der angelsächsischen analytischen Philosophie und Sprachphilosophie von Bertrand Russell über Gilbert Ryle bis zu Peter Strawson, Willard Van Orman Quine, Hilary Putnam, Donald Davidson und John L. Austin vertraut machte. Nach der Rückkehr nach München widmete er sich wieder hauptsächlich der historisch-interpretierenden Konstellationsforschung des deutschen Idealismus von Kant bis Hegel und hinterließ der Forschung neben Quelleneditionen rund 800 Ordner ungedrucktes Material aus seiner 20-jährigen Arbeit in Archiven und Bibliotheken, aber auch aus abgelegenem Privatbesitz.
Relativ spät erst wandte sich Henrich aktuellen politischen Themen zu. 1990 veröffentlichte er Überlegungen zu einer „Ethik zum nuklearen Zeitalter“ und den Band „Eine Republik in Deutschland“ mit pointierten Reflexionen zu Teilung und „Wiedervereinigung“, die „ein ganz großes Versprechen und eine ebensolche Aufgabe war. Wir hatten sie nicht verdient, sie ist uns zugefallen.“
Solche nüchternen Bestandsaufnahmen ohne klebriges nationales Pathos zeichnen Henrichs Denken aus – über die „Philosophie der Subjektivität und die Grundzüge des bewussten Menschenlebens sowie die Erfahrung der Gegenwart des Unbedingten“, das heißt das „Begreifen der Unbegreifbarkeit“.
Dieter Henrich: „Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie“. Im Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow. C. H. Beck, München 2021, 275 Seiten, 28 Euro
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