piwik no script img

„Ich will Liebe! Ich will Schönheit!“

René Pollesch eröffnet mit seinem neuen Stück „Goodyear“ die Postpandemie-Saison am Deutschen Theater Berlin. Ein schöner kleiner Abend übers Leben und Sterben, nicht nur auf der Rennstrecke

Eis am Stiel beim Feuer­löscher: Sophie Rois in Polleschs „Goodyear“ am Deutschen Theater Foto: Arno Declair

Von Barbara Behrendt

Ein gutes Jahr? Wer, bitte, kann das über 2020 oder das Lockdown-Halbjahr 2021 sagen? „Goodyear“ heißt nichtsdestotrotz René Polleschs neue Arbeit. Auf der großen Bühne wird damit am Deutschen Theater das „Pilotprojekt Testing“ wiederaufgenommen, das im März wegen der hohen Coronazahlen abgebrochen werden musste. „Goodyear“ klingt nach trotzig-optimistischem Neustart – oder ist der Titel ein Verweis auf die Reifenfirma selbigen Namens? Wahr ist für diesen Abend beides.

Auf der Bühne: schwarzglitzernder Asphalt und darüber nichts als blauweißgewölkter Himmel am hinteren Bühnenhalbrund. Freie Sicht und freie Fahrt bis ans Ende des Horizonts. Die perfekte Rennstrecke. Dann treten sie auf, die eleganten Rennfahrerwitwen. Schwarze Highheels, schwarze Puffärmel, schwarze Schleier vor dem Gesicht. Doch weil es eine viel zu geschlossene Szene wäre für einen Regisseur wie René Pollesch, in diesem Outfit nun auch noch über Rennfahrerwitwen zu sprechen, folgt der Text dazu erst in der allerletzten Szene.

Da erzählt Sophie Rois die Geschichte einer Rennfahrergattin, die gesagt haben soll: „Wann immer wir irgendwo ein schickes schwarzes Kleid gesehen haben, haben wir’s gekauft. Denn wir wussten, wir werden es brauchen.“ Sie schwärmt, mit welcher Kälte die Dame das gesagt habe, mit respektvoller Gleichgültigkeit, Arroganz und Todesverachtung.

Jetzt aber, am Anfang dieses kleinen Einstünders, fährt Pollesch mit seinen begnadeten Spielerinnen – um Rois im Zentrum sind das Astrid Meyerfeldt, Christine Groß, Katrin Wichmann und Jeremy Mockridge – zunächst mal den altbewährten Diskurs-Boulevard ab. Rollenspiel und Repräsentation sind (wie so oft) das Thema: Was tun, wenn ein Spieler nicht in seine Figur hineinfindet? Wo ist die Figur zu suchen? Sollte man nicht immer mit einem Fuß in seiner Figur stehen? Oder umgekehrt: Was, wenn man, wie Sophie Rois, weiter den supercoolen Rennfahrer spielen will und aus der Rolle nicht herausfindet? Und was, apropos Authentizität, ist mit dem kleinen Mädchen, das für einen Film gecastet wurde, weil es ist, wie es ist – soll das nun Schauspielunterricht bekommen?

Auf der Bühne wird all das zum unterhaltsamen Szenen-Pingpong mit fliegendem Kostümwechsel. Da kommt ein meterhoher Stiletto mit blinkenden Glitzerlichtern auf die Bühne gefahren, bei einer Saloon-Schlägerei werden reihenweise Zähne gespuckt, Katrin Wichmann performt mit Verve eine hübsche kleine Cheerleader-Choreografie und dann, die Mutter alles Gags: Rois darf Mockridge eine Torte ins Gesicht dreschen.

Vordergründig arbeitet sich der Abend mal wieder an Polleschs Seh- und Lesefrüchten ab, vor allem an der französischen Schauspielagenten-Serie „Call My Agent!“ und an Viscontis Film „Bellissima“, wo ebenfalls die Tochter zum Filmstar gemacht werden soll.

Doch das sind Nebenschauplätze. Immer wieder kommt Pollesch auf einen Rennfahrer zurück, gemeint ist der Österreicher Jochen Rindt, der 1970 mit nur 28 Jahren bei einem Rennen verunglückte und posthum den Formel-eins-Weltmeistertitel erhielt. Vor dem blauen Himmel, dem glitzernden Asphalt und den Spielerinnen, jetzt in Rennfahreranzügen, geht es letztlich ums große Ganze: das Leben, das Sterben und wofür sich beides lohnt.

Diesmal hat Pollesch, ohne Referenz auf die Pandemie, ein kleines, schönes Stück zur Stunde entworfen

In einem nachdenklichen Monolog spricht Astrid Meyerfeldt vom unbändigen Lebenswillen, den es brauche, um eine bedrohliche Situation zu überstehen, bei gleichzeitiger Achtlosigkeit gegenüber dem Sterben: „Man kann sich in so einer Situation nicht einfach an das Leben klammern, denn dann wäre man ein Feigling, und man kann auch nicht einfach auf den Tod warten, denn dann wäre man ein Selbstmörder. Man muss das Leben wollen, aber in einer irgendwie gearteten Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber und auch gegenüber dem Sterben.“

Auch nach dem ersten Lockdown hatte das DT mit Pollesch die Saison eröffnet – das Palaver über Post-Revolution und Banküberfälle wirkte damals allerdings, als habe man den Abend wie eine verstaubte Schneekugel nach Jahren aus dem Regal geholt. Diesmal hat Pollesch, ganz ohne Referenz auf die Pandemie, ein kleines, schönes Stück zur Stunde entworfen. Es feiert das Leben, das doch immer im Angesicht des Todes steht. „Ich will Musik! Ich will Liebe! Ich will Schönheit!“, deklamiert Rois mit großem, halb ironischem Pathos am Ende.

Und wenn sie dann alle zum Applaus auf die Bühne kommen, sich zu Rockmusik feiern lassen und Pollesch mit glücklichen Augen ins Publikum schaut, als wolle er sagen: Hey, wir leben noch!, dann ist das der bislang schönste Gemeinschaftsmoment im „Goodyear“ 2021.

Wieder am 30. Mai

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen