Im Schutz der langen Silberhaare

KEINE NOSTALGIE Am Montagabend gaben Dinosaur Jr. ein gutes Konzert an angemessenem Ort, nämlich dem ordentlich vollen Astra in Friedrichshain

Es war gut, und es war deswegen gut, weil es keine rein nostalgische Angelegenheit war. Im Gegenteil. Dinosaur Jr. waren schon immer jenseits von hip – jenseits jeden Hypes und jeder Mode, und genau deswegen wurden sie geliebt. Im Grunde haben J Mascis, Lou Barlow und Schlagzeuger Murph nämlich den Indie-Rock erfunden, damals, als es noch nicht einmal Grunge gab.

Die drei Stoffel gründeten ihre kleine Band 1984/85 und machten Musik, die auf kleinen Labels unterwegs war, zu schräg, zu laut, zu sperrig für den Mainstream, zu dilettantisch für gewöhnliche Rockohren oder konservative Geister, die auf komplette Virtuosität standen. Indie-Rock, das war Musik für schüchterne Jungs mit oder ohne Skateboard und meist ohne Freundin, Musik für Gymnasiasten ohne reiche Eltern, Musik für Eingeweihte. Oft melancholisch, nicht selten schnell, und nicht so stumpf wie Punk und nicht so extrablöde ausgestellt maskulin wie Metal. Indie-Rock, das, was wir wollten und was Lou Barlow, der nach dem großen Krach mit J Mascis mit seiner Band Sebadoh unterwegs war, im Song „Gimme Indie Rock“ auf den Punkt brachte.

Der Unterschied zwischen Sebadoh und Dinosaur Jr. zeigte sich Montagabend im ordentlich vollen Astra in Friedrichshain. Sind Sebadoh im Wesentlichen die kleine Band geblieben, die sie schon immer waren, haben Dinosaur Jr. ein größeres, breiteres, altersmäßig durchmischteres Publikum gewonnen. Ob es an den ein, zwei MTV-Hits lag, die J Mascis hatte, als die Urformation schon nicht mehr zusammen war? Lag es daran, dass auch Slacker, Grunger, Neohippies das schlaffe Genäsel über brachialem Gitarrenlärm gut fanden? Als role model schien J Mascis lange zu taugen – als maulfauler Spinner, der alles, was es zu kommunizieren gab, in Songtexte und großen Lärm legen sollte.

Inzwischen hat es die Band vier Jahre nach ihrer Wiedervereinigung erstmals in die deutschen Charts geschafft, wenn auch nur für eine Woche. J Mascis hat langes silbergraues Haar und steht fast selbstironisch vor einer großen Wand aus Marshall-Verstärkern. Lou Barlow, nicht minder verrückt, steht auf der anderen Seite der Bühne und sucht die Nähe des Schlagzeugs, vielleicht um sich dem Lärm nicht ganz so auszusetzen. Und Murph wird wohl der einzige Schlagzeuger sein, der gleichzeitig den Rhythmus vorgeben und erahnen muss, je nachdem, was Mascis gerade so spielt.

Also, Konzert war gut, die Örtlichkeit angemessen, das Astra Kulturhaus, das sich nach einer Hamburger Brauerei benannt hat, wirkt wie ein endlich zu seiner Bestimmung gekommener Ort. Selbst die dezent platzierte Werbung passt in den Stil, der eine Mischung aus 60er-Jahre und DDR-Schick ist. Allerdings hat das Astra vom Schwesterhaus Lido die Soundprobleme übernommen: Wie schwierig kann es sein, zwei Gesangsmikrofone aufeinander abzustimmen? Sehr schwierig, scheinbar. Die Mischer haben ein gutes Drittel Konzert gebraucht, um dem Lärm Substanz und Pegel beizubringen.

Nächste Frage: Musste Lou Barlow viel Überredungskunst aufbieten, um eigene Songs singen zu dürfen? Oder macht es J Mascis einfach Spaß, nicht nur die eigenen, sondern auch die seines Bassisten zu zersägen. Barlow ist keinesfalls der schlechtere Songschreiber, für die Höhepunkte im Set ist aber natürlich Mascis verantwortlich, „Get Me“, „Repulsion“, „Freak Scene“, „The Wagon“, das sind natürlich Hits. Bei Mascis stellt sich die Frage, wie seine Ohren das so lange schon mitmachen. Vielleicht schützen ja die langen Silberhaare. RENÉ HAMANN