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Archiv-Artikel

Sachunverstand

Zu dumm zum Erziehen? Der preisgekrönte Film „In Sachen Kaminski“ (20.40 Uhr, Arte) führt auf grandiose Weise Behördendünkel vor

Von Anja Maier

„Wenn man was nicht wissen tut, dann ist das nicht schlimm.“ Wer so etwas zu seiner fünfjährigen Tochter sagt, weiß wohl nicht, was sein Erziehungsauftrag ist. Martin Kaminski sagt diesen Satz zu seiner Tochter beim Abendessen. Lona hatte gefragt, was ein „Brockhaus“ ist.

Martin und Petra Kaminski (Matthias Brandt und Juliane Köhler), Lonas Eltern, wissen also nicht, was ein „Brockhaus“ ist. Auch nicht, wie man Memory spielt oder einen geraden Satz baut. Didaktisches Spielzeug, musikalische Früherziehung, vollwertige Ernährung – die Segnungen der Mittelschichtkinder –, davon haben die beiden noch nie gehört. Dafür können sie andere Sachen. Prima Suppe kochen zum Beispiel, gut Witze erzählen und sich jeden Abend eine Gute-Nacht-Geschichte für Lona (Amber Bongard) ausdenken. Von der Puppe Kira und Mona, der Katze mit den drei Augen.

Wenn heute Abend „In Sachen Kaminski“ läuft, ist es gut möglich, dass anschließend linksliberale Gutmenschen ein paar Vorurteile über Bord geworfen haben und sich ihre mitunter abschätzige Sicht auf so genannte Unterschichteltern geändert hat. Denn hier wird eine wahre Geschichte erzählt: Im Februar 2002 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Ehepaar K. Recht gegeben, das vor dieser – letzten – Instanz auf Herausgabe seiner Kinder sowie Entschädigung geklagt hatte.

Der Film, der beim produzierenden SWR nicht unumstritten ist und gerade beim Münchner Filmfest ausgerechnet den Produzentenpreis gewonnen hat, erzählt diese Geschichte von Hochmut und Liebe, falsch verstandener sozialer Verantwortung und verzweifeltem Beharren auf Gerechtigkeit. Die Kaminskis, geistig schlicht gestrickte Eltern, beantragen beim Jugendamt Frühförderung für ihre Tochter. Die Familienhelferin Lohse, gespielt von Lena Stolze, kommt ins Haus. Der Fall scheint klar: Die packen das nicht mit dem Kind.

Wie wilde Tiere beobachtet sie die Kaminskis, die kaum lesen können und auch noch falsch reden tun. Als die sich gegen Lohses Herablassung wehren, rächt sie sich: Ein Sozialträger bringt die Fünfjährige in einer Pflegefamilie unter, erst sechs Monate später, nach einer Klage, dürfen sie ihre Tochter einmal im Monat eine Stunde lang sehen. Sie dürfen Lona dann nicht in den Arm nehmen und müssen tun, als bemerkten sie nicht, dass um sie herum acht Menschen – Sachverständiger, Familienhelferin, Heimerzieher usw. – stehen. Und sich ihr Urteil bilden über sie als Eltern – ein vernichtendes Urteil.

Das falsch verstandene Gutmenschentum dieser Front der sozialen Dienste wird von Regisseur Stephan Wagner grandios inszeniert. In allen Instanzen, die die bei ihrem Rechtsempfinden gepackte Anwältin Fink (Anneke Kim Sarnau) gemeinsam mit den Kaminskis durchkämpft, stehen sie da: hochnäsig, geschäftstüchtig, siegessicher. Legt man die Maßstäbe dieser Kindesentzieher an, „müsste man jedes zweite Kind die Familie wechseln lassen“, sagt Anwältin Fink einmal. Und tatsächlich stellt der Film die berechtigten Fragen, was richtige Erziehung ist und wer darüber zu entscheiden hat, wo die Pflicht zum staatlichen Eingreifen beginnt und das Recht auf Einmischung endet.

„In Sachen Kaminski“ dekliniert das alles an Lona und ihren Eltern durch. Die Wirklichkeit sah weitaus schlimmer aus. Als die K.s 2002 in Straßburg gewannen, hatten sie fünf Jahre um ihre Kinder gekämpft. Corinna und Nicola – zum Zeitpunkt der „Herausnahme aus der Familie“ sechs und vier Jahre alt – hatten diese Jahre getrennt voneinander in Pflegefamilien verbracht. Man möchte gar nicht fragen, wie es jedem Einzelnen der Familie K. heute geht.