berliner szenen
: Der Riss durch die Gesellschaft

Beim Abendessen laufen im Deutschlandfunk die 20-Uhr-Nachrichten. Es gab gerade wieder einen „Impfgipfel“. „Jedem Bürger wird bis zum Ende des Sommers ein Impfangebot gemacht werden können“, wurde Angela Merkel zitiert. Vorher war es schon um mehr Rechte für Geimpfte gegangen. Die könnten dann wieder ins Restaurant oder ins Kino.

Den Riss durch die Gesellschaft haben wir im Kleinen gleich mal durchgespielt am Abendbrottisch: Mein Mann wurde – weil über 60 – im März mit AstraZeneca geimpft. Da war der Impfstoff gerade für Jüngere untersagt worden und sehr spontan konnte man Impftermine buchen. Die zweite Impfung ist im Juni. Danach könnte er zum Beispiel mit seinem Kumpel ins Kino und mir hinterher von dem Film erzählen, den ich nicht sehen darf. Vorher könnten sie irgendwo noch eine Kleinigkeit essen, während ich zu Hause für mich und das Kind Abendbrot mache. Das wirkt auf mich schon etwas befremdlich. Obwohl ich das Grundrechte-Argument sehr gut nachvollziehen kann. Theoretisch.

Aber nun gibt es Hoffnung auf gemeinsame Unternehmungen, denn auch ich könnte bis zum Ende des Sommers ein „Impfangebot“ erhalten. Wie lange es dann wohl dauert, einen Termin zu ergattern? Vielleicht schon im August. Mit viel Glück könnte ich im Oktober die zweite Spritze bekommen. Und damit wäre der Weg frei für einen Familienurlaub am Mittelmeer. Halt! Natürlich nicht. „Jeder Bürger“ – das sind ja ausschließlich Erwachsene. „Bin ich kein Bürger?“, empört sich der 15-Jährige. „Nee“, sag ich. „Wenn Papa und ich im Herbst nach Griechenland fahren, bleibst du zu Hause.“

Kinder dürfen also auch in Zukunft gar nichts, nur zur Schule gehen. Für die gilt die vereinbarte erhöhte Sonder-Inzidenz von 165. Der familieninterne Disput ist vorprogrammiert. Gaby Coldewey