Philosoph Peter Sloterdijk im Gespräch: Austritt aus der Wirklichkeit

Warum treten zunehmend Leute aus der Wirklichkeit aus, Peter Sloterdijk? Der Philosoph im taz FUTURZWEI-Gespräch.

Foto: Anja Weber

taz FUTURZWEI: Lieber Herr Professor Sloterdijk, wir haben hier einen Brief von enttäuschten Lesern, die sich abwenden von dem, was wir als Vernunft verstehen, und zu den Corona-Protesten konvertieren. Wenn man das liest, denkt man, sie konvertieren von sich selbst zu etwas anderem. Uns interessiert, wie es genau funktioniert, dass angesichts einer krisenhaften Entwicklung Leute so wegkippen oder die Seite wechseln. Dem Sozialpsychologen fällt nichts dazu ein. Deshalb fragen wir den Philosophen.

Peter Sloterdijk: Ich fürchte, der Philosoph als solcher ist auch nicht imstande, hierauf sinnvoll zu antworten. Ich dürfte höchstens aus meiner eigenen Biografie schöpfen und mich daran erinnern, dass es in meiner Lebensgeschichte eine Periode gab, in der ich prekäre Erfahrungen gemacht habe, die ich nicht missen möchte, aber auch nicht festhalten konnte: das Glück, einer Sekte anzugehören, die im Besitz einer alternativen Wahrheit zu sein glaubt.

Sie lebten um 1980 in dem Meditationszentrum des Bhagwan Shree Rajneesh im indischen Pune. Was suchten Sie?

Damals gab es eine Phase, als bei uns die marxistisch codierten Rechthabe-Gefühle gegenüber dem Lauf der Welt am Verblassen waren, aber die Bereitschaft für eine alternative Wahrheit immer noch aktuell blieb, ob sie aus Indien kam oder von einem anderen Ende der Welt. Diese Neigung zu einer Konversion gegen das Gewöhnliche, so scheint mir, liegt auch heute wieder in der Luft. Jetzt wie damals wollen viele nicht glauben, dass die Vernunft bei der Mehrheit ist.

Muss sie das denn?

Nun ja. Lässt man sich auf die Annahme ein, dass Wahrheit auf die Dauer etwas mit Zustimmungswürdigkeit zu tun hat, so sollte es nicht falsch sein, wenn die Wahrheit sich um Mehrheit bemüht.

Sind Sie damals auch aus der gesellschaftlichen Realität der späten 1970er-Jahre in eine alternative Wirklichkeit gewechselt?

Nachdem das Wort »alternativ« so vergiftet ist, würde ich es anders ausdrücken. Die Fluchttendenz der späteren 70er-Jahre wies ja seltsamerweise in die Hauptrichtung der sozialen Entwicklung, sprich: Vermehrung der Freiheitsgrade, sexuelle Emanzipation, erhöhte Aufmerksamkeit für weibliche Werte. Was scheinbar als Orientalismus begonnen hatte, sollte sich als Vorschule zum kosmopolitischen Empfinden erweisen. 30 Jahre später wurde vom Mainstream eingeholt, was anfangs ins Abseits oder auf den Weg nach innen geführt hatte. Insofern hatten wir Poona-Reisenden Glück: Wären wir nicht vom Hauptfeld geschluckt worden, hätte sich die sektiererische Abspaltung vertieft. Das gilt vermutlich für die Vorhut meiner Generation insgesamt: Die 68er-Bewegung hatte die Form einer Sekte, die ironischerweise in den Mainstream mündete.

Was ist denn damals mit Ihnen passiert?

Mein Wechsel in die andere Wirklichkeit hatte damit zu tun, dass damals ein »alternatives« Wahrheitsverständnis aufgekommen war, vor allem dadurch, dass eine emotionale Komponente in die diskursiven Wirklichkeitsauffassungen eindrang. Die Sekte diente damals als ein Medium der emotionalen Vervollständigung. Pathetisch gesagt: Wir haben die abgespaltene Emotionalität zurückerobert. Mit bloß akademischen Mitteln, aber auch mit den Mitteln der traditionellen Psychoanalyse hätten wir sie nicht wiedergewinnen können. In den 70er-Jahren herrschte in der Subkultur eine gruppentherapeutische Euphorie. Die gipfelte in der Überzeugung, dass die Wahrheit im Gefühlsausbruch liegt und dass zur Authentizität eine gewisse Heftigkeit gehört.

Das endete aber nicht zwangsläufig im Irrsinn.

Sicher nicht. Doch warum? Weil wir damals in den inneren Grenzgängen den Unterschied zwischen Katharsis und Ausagieren kennenlernten. Wutausbrüche und Tränen sind manchmal Vorstufen zur Unterlassung von Verbrechen. Dadurch, dass die sektiererische Therapie- und Meditationsszene von damals eine Bewegung der menschlichen Vervollständigung war, musste sie eben nicht zur Abspaltung von der Gesamtgesellschaft führen. Diese Avantgarde-Idee, die damals mit einem gewissen Sektarismus verknüpft war, bedeutete ein Privileg, das Menschen in den 70er-, 80er-Jahren wahrnehmen konnten. Ich zähle mich zu den Begünstigten. Heute sehe ich hingegen mit Unruhe, dass auch viele Leute, die nicht zu denen mit den primitivsten Reflexen gehören, aus dem Gesprächszusammenhang der größeren Gesellschaft herausspringen, um ihre Wahrheiten nur noch subkulturell zu definieren. Diese Sezessionen zeigen eine riskante Dynamik auf. Man weiß nicht, ob diese Leute jemals zurückkommen.

Versuchen Sie doch bitte eine Annäherung, was da genau passiert.

Ich weiß nicht, wie die Matrix zu beschreiben wäre, aus der sich die sektiererischen Konversionen unserer Tage erklären ließen. Das allgemeine Schema von Krisenstress und Durchbruchsfantasie dürfte auch auf sie anwendbar sein. Hermann Broch hatte von den späten 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts an seine »Massenwahntheorie« formuliert, die ich in den 80er-Jahre studierte. Broch wusste, wovon er redet, er hatte die aufgepeitschten Massen der NS-Zeit vor Augen, und seine Faschismustheorie ist aktuell geblieben. Seiner Auffassung nach sind moderne Gesellschaften großformatige Ensembles in präpanischer Erregung, die unter dem Eindruck von Krisenstress mehr oder weniger plötzlich in akute Panikzustände versetzt werden können. Demnach wäre Panik der Stoff, aus dem die irrationalen Masseneffekte sind. Kollektivpaniken manifestieren sich in Massenflucht durch enge Ausgänge oder in der Zuflucht zu einem Retter. Der trägt das Mandat, das Volk wieder groß zu machen, indem er die befreiende Katastrophe herbeiführt.

Foto: Anja Weber

Werden die Leute, die jetzt abspringen, irgendwann wieder zur rationalen Betrachtung der Lage zurückfinden?

Der Mann: Philosoph. Professuren in Karlsruhe und Wien sowie in Paris, Zürich, Weimar, New York und Straßburg.

Jahrgang 1947, geboren in Karlsruhe, lebt neuerdings in Berlin.

Das Werk (u. a.):

Kritik der zynischen Vernunft (1983): Katapultierte Sloterdijk an die Spitze der Gegenwartsphilosophen Europas. Er zeigt darin, wie aufgeklärtes Bewusstsein in Zynismus mündet und nennt es »das aufgeklärte falsche Bewusstsein«.

Den Himmel zum Sprechen bringen (2020): Furiose Betrachtung der Religions- und Theologiegeschichte sowie des religiösen Sprechens mit hohem Erkenntnisgewinn.

Wenn ich Brochs Schema auf die aktuellen Verhältnisse in den USA anwende, sehe ich ein großes Segment der Population, das auf der Schwelle vom präpanischen zum panischen Zustand schwankt. Nachdem die panische Vorhut, die das Kapitol stürmte, zurückgeschlagen wurde, ist zu vermuten, dass zahlreiche Unterstützer sich zu milderen Formen von Sektarismus rekonvertieren werden. Auch fanatische Trumpianer werden wahrscheinlich nicht in der Dauerverrücktheit stehen bleiben. In Amerika sind die verschiedenen Formen des Irrationalismus sehr durchlässig und können jederzeit in weniger heftige Ausprägungen übergehen. Man weiß zum Beispiel, nicht alle, die sich bei Ron Hubbard und seiner Science-Fiction verhakt hatten, sind dabeigeblieben, obwohl man ihnen den Ausstieg schwer machte. Wer abfällt, kann sich dort drüben ziemlich leicht in mildere Formen des evangelikalen Separatismus einordnen.

Die Frage ist doch, ob ein der Realität angemessenes wirtschafts- und klimapolitisches Rahmenprojekt überhaupt Konsens werden kann. Vielleicht sind die Lösungen für die aktuellen Probleme zu komplex, um populär zu werden, weswegen Radikalisierung und Irrsinn zunehmen.

Eine Radikalisierung geschieht besonders in dem Augenblick, wo jemand sich selbst zum Medium des Zeitgeistes proklamiert, sagen wir etwa im »Modus Greta«. Radikalisierung liegt immer in der Luft, wenn Menschen die Flucht »aus der Angst in die Ekstase« vollziehen, um den Titel der bekannten klinischen Studie von Pierre Janet aus den 1920er-Jahren zu erwähnen.

De l'angoisse à l'extase.

Konversionen sind für die kommenden Jahre und Jahrzehnte massenhaft zu erwarten; es ist sehr wahrscheinlich, dass immer mehr Menschen aus der Angst in die Ekstase aufbrechen, beziehungsweise aus der Ratlosigkeit in die Mission. Menschen als sinnsuchende Wesen sind leicht dazu zu bewegen, sich als Träger einer Mission zu verstehen, sobald sie spüren, wie der Appell eines Großproblems durch ihr eigenes Leben hindurchläuft.

Wobei Greta Thunberg eine Zuwendung zu rationaler Politik repräsentiert und gerade nicht eine Abwendung.

Sie wechselt aus der pubertären Ohnmacht in eine Ergriffenheit, aus der ihre Mission entspringt.

Aber auf einer rationalen Grundlage: dass nur globale Politik in der Lage ist, die globalen Probleme zu lösen.

In jeder Epoche werden andere Aufstiege in erweiterte Horizonte ausprobiert. Nach der Französischen Revolution führten die zeitgemäßen Konversionen regelmäßig zu liberalen oder zu sozialistischen Positionen. Wem dieses starke Entweder-oder zu anspruchsvoll schien – denn Liberalismus ohne Selbstlosigkeit ist ebenso undenkbar wie Sozialismus –, der konvertierte eher zur Nationalität und fand in der Behauptung des eigenen Kollektivs seine Mission. Was man als eine betrügerische Form der Selbstmission betrachten kann.

Inwiefern?

Dass man für das, was man durch Geburt sowieso ist, auch noch Partei ergreift, als ob die chauvinistische Selbstvergrößerung etwas Höheres sei. Dabei hatte der selige Nicolas Chauvin, der unter Napoleon diente, noch seine 17 Verwundungen, mit denen er prahlen konnte.

»Ich habe eine Lektüre in den Knochen, die bei mir ziemlich nachwirkt: Timothy Snyder« Aktueller Buchstapel des Viellesers Sloterdijk Foto: Anja Weber

Unsere Grundfrage lautet: Werden die Leute wirklich irre im Sinn einer Pathologie oder haben diese Formen von Wahrheitssuche im »alternativen« Bereich andere Ursachen? Sie haben jüngst in einem Essay über den »Zynismus des Pöbels« gesprochen und ihn als Reaktion auf den »Zynismus der Eliten« gedeutet. Zynischer Pöbel, das wären in den USA die Leute, die das Kapitol in Washington stürmen, bei uns sind es die Corona-Leugner, die keine Lust mehr haben, die Maske aufzusetzen, weil sie meinen, auf andere keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen, nachdem die anderen, scheinbar, auch keinerlei Rücksicht auf sie nehmen.

Die Bilder vom Sturm aufs Kapitol werden uns noch eine Weile beschäftigen. Ich bin überzeugt, dass es keineswegs nur Unterschicht-Individuen waren, die sich da zusammengefunden haben. Es waren akademische Personen dabei, auch Militärs, Millionärssöhne und Staatsfeinde aller Couleur. In den USA läuft gerade eine interessante Diskussion darüber, ob es nicht »abwärtsmobile Intellektuelle« sind, zum Teil mit PhD – früher hätte man sie »deklassiert« genannt, die sich in den gegen den Konsensus meuternden Gruppen hervortun, weil sie dort Sprechrollen finden, wie sie sie als Hochschullehrer oder als Beiträger zu Feuilletondebatten nie und nimmer wahrnehmen könnten. Man sollte, scheint mir, solche Ereignisse immer auch mit dem Zynismus des geschulten Berufsberaters betrachten. Die Krise ist eine große Arbeitgeberin, und aus dem ideologischen Chaos entspringen immerzu wilde Karrieren, in die man nur im Modus der Selbsternennung gerät.

Wenn ich bei der CDU nix geworden bin und zur AfD gehe, kriege ich dort eine beachtliche Rolle. Bekehrungen dieser Art sind sichtlich interessengeleitet. Aber es gibt unleugbar auch einen Teil der Gesellschaft, der es aufgegeben hat, an die Vertretung seiner Interessen im etablierten Parteienspektrum zu glauben. Der möchte jetzt einfach nochmal auf die Kacke hauen. Das ergibt seine alternative Wahrheit.

Also hätten wir es nicht mit Wahrheitsuchern zu tun, sondern Wahnsinnssuchern, mit Krawallisten im Alternativengewand. Man kann das mit den grellen Posen in der Popkultur vergleichen. In der Multioptionsgesellschaft ist ein wenig Wahnsinn ein Geschäftsmodell. Man kommt vermutlich analytisch weiter, wenn man bei Phänomenen dieser Art eine Variante von politischem Existenzialismus als Deutungsschlüssel ansetzt, als wenn man beim Einzelnen tiefenpsychologische Motivforschung betreibt. Erweckungen gehören zu den elementaren Risiken von Lebensläufen, sie finden zu den ungewöhnlichsten Zeitpunkten statt. Oft geschehen sie zu Zeiten, wenn der äußere Druck zunimmt. Sektenforscher konnten zeigen, dass der Zustrom zu islamischen Gruppen sich verdoppelt, sobald die antiislamische Repression kulminiert.

Das heißt?

Das heißt, es gibt eine Dynamik der Gegenidentifikation. Wer der Mehrheit beitritt, löst sich auf. Mehrheit ist eine fade Bouillon. Meistens traut man sich nicht genügend Kompaktheit zu, um sich nicht in der Normalbrühe aufzulösen. In der Minderheit behält man Kontur. Wer verneint, spürt sich mehr. Im Übrigen muss man in diesem Zusammenhang auch an alte Soldatenweisheiten erinnern. Eine davon lautet: Noch immer hat der Krieg seinen Mann ernährt. Das heutige Äquivalent zum Krieg ist die andauernde Krise, auch die sorgt für die Ihren.

Eine Sache, die auffällt, bei allem, was Sie schreiben oder in Interviews äußern: Die Medien, sagen Sie, sogar die Qualitätsmedien, seien Betreiber und Verstärker der Irrationalität. Weil das deren Geschäftsgrundlage ist?

Ohne Zweifel. Die Medien sind in funktionaler Sicht Partner des Unfalls, des Verbrechens, des schlimmen Gerüchts. Sie bewirtschaften Ereignisse und Katastrophen. Die kurzfristige Katastrophenpublizistik hat naturgemäß einen irrationalen Anteil. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, die Medien kooperierten allesamt mit dem Irrsinn. Aber denken Sie an die Resonanz auf einen Terroranschlag im eigenen Land oder innerhalb der Europäischen Union: Regelmäßig wird jeder Angriff im Maßstab von eins zu einer Million vergrößert, bis sich alle bedroht glauben. Dabei sollte man längst wissen, dass Terrorismus eine Kommunikationstechnik ist, die nur funktioniert, wenn sie mit medialen Multiplikationen rechnen darf. In Lenins Dekreten über den roten Terror von 1918 wird verordnet, dass die Publikation der Listen der von Revolutionären Ermordeten in einem Umkreis von einhundert Werst bei denen, die als Nächste dran sein könnten, Furcht und Zittern bewirken muss.

Sie haben gesagt, was sich als Information ausgibt, ist in der Sache oft nichts anderes als Erregung, Vergiftung und Zerstörung der öffentlichen Urteilskraft.

Das kann man im Hinblick auf viele Abläufe bestätigen. Die Verknüpfung zwischen der Epidemiologie und der Semantik wurde übrigens schon durch Jean Baudrillard vor einem halben Jahrhundert hergestellt. Demnach soll man bei jeder Nachricht neben dem Content auch die emotionale Ladung in Betracht ziehen, weil sie es ist, die für die Ausbreitung sorgt. Nachrichten sind Vektoren, sie sind erfolgreich, wenn sie informatische Epidemien auslösen. Das moderne Nachrichtenwesen vollzieht sich im Modus von künstlichen Epidemien, die binnen 24 Stunden Millionenpopulationen infizieren. Ohne die Ansteckungsfaktoren können emotionale und thematische Synchronisierungen größerer Populationen nicht gedacht werden. Gelegentlich findet auch effektive Information statt, denn im Wettstreit zwischen dem Mitteilungswert und dem Erregungswert einer Nachricht kann gottlob so etwas wie Lernen und Abklärung geschehen. Wäre es anders, blieben uns nur Verhetzung und Verrücktmacherei.

Abgedriftete Milieus lassen aufklärerische Informationen nicht mehr an sich heran.

Das finde ich sehr beunruhigend. Auch die Tatsache, dass Trump hartnäckig den Wahlsieg reklamierte, spricht dafür, dass er nur noch den Spiegelungen seiner Fiktionen begegnete. Für Tatsachen gab es in seinem Weltbild keinen Platz mehr.

Für knapp die Hälfte der Wählerschaft in den USA, 74 Millionen Menschen, scheinen unsere Rationalitätskriterien also nicht mehr konsensfähig. Aus historischer Sicht beobachten wir in den totalitären Systemen genau diesen Effekt: Was wir als moderne Demokraten als vernünftig verstehen, wird völlig suspendiert, und eine andere Form von kollektiver Wahrheit wird etabliert. Insofern ist die Frage nach dem Irresein letztlich auch eine Frage nach dem Verhältnis von Mehrheit und Minderheit. Bei einer knappen Minorität von 74 Millionen wird es schwierig.

Sloterdijks Schreibtisch im Arbeitszimmer Foto: Anja Weber

Wer heutzutage auf eine reine Konsensus-Theorie der Wahrheit setzen wollte, gerät in eine etwas problematische Situation, vorsichtig gesprochen. Der Konsensus ist offenbar nicht imstande, sich dem Schwerefeld des Wahns zu entziehen.

Damit rühren wir an einem heiklen Punkt der Gegenwart.

Aber auch an einem heiklen Punkt der Vergangenheit. Denken Sie daran, dass im 17. Jahrhundert jeder dritte Spanier sich entschlossen hatte, in einen Orden einzutreten. Was verrät, wie sehr die Lebensperspektiven für die meisten Menschen auf der Iberischen Halbinsel jener Zeit versperrt waren. Der Aufbruch in die Neue Welt, die man gerne mit der spanischen Seefahrt verbindet, war nur relativ wenigen zugänglich.

Worauf wollen Sie hinaus?

Das war die höchste Blütezeit der spanischen Kultur, die Wendung »Siglo de Oro«, Goldenes Jahrhundert, klingt uns ja immer noch in den Ohren. Gleichzeitig war der Faktor kollektiver Verrücktheit so immens wie später kaum jemals wieder. Um das an einem prominenten Beispiel zu erläutern: Würde uns Isaac Newton heute über den Weg laufen, auch er ein Geschöpf des 17. Jahrhunderts, würden ihn die meisten für einen illuminierten Verrückten halten. Seine Biografen berichten, dass er ein paar Hundert Bücher mit naturwissenschaftlichen Titeln besaß, der Schwerpunkt seiner Bibliothek bestand aber aus esoterischen Büchern, deren Inhalt wir längst als Hokuspokus betrachten. Sobald Newton der Mathematik den Rücken kehrte, schwelgte er in Irrationalismen. Wahrscheinlich neigen wir dazu, den Verrücktheitsindex für kollektive Zustände in der Vergangenheit zu unterschätzen und für die gegenwärtige Zeit zu überschätzen.

Wenn wir uns der Gemeinde der modernen Vernunft zurechnen würden und bestimmte Rationalitätsunterstellungen machen, dann stellt sich angesichts der Hälfte der amerikanischen Wählerschaft doch die Frage: Trägt denn das noch, wozu wir uns bekennen? Oder stehen wir als selbsternannte Vernünftige längst mit dem Rücken zur Wand? In einem Essay zum Brexit im Handelsblatt haben Sie vor Kurzem einige diagnostische Denkfiguren vorgeschlagen: Sie deuten den Populismus als Aggressionsform der Simplifikation und die Demokratie als Ernstfall der Epidemiologie. Was heißt das?

Wir sehen die Flammenschrift an der Wand doch schon seit längerer Zeit. Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich vom April 2017 haben in der ersten Runde mehr als 41 Prozent der Wähler für links- und rechtsradikale Wahnsysteme votiert, die unter den Namen Le Pen und Mélenchon firmieren, zusammen über 14 Millionen Stimmen, während der spätere Präsident Macron in der ersten Runde achteinhalb Millionen Stimmen auf sich vereinte und froh sein durfte, die zweite Runde zu erreichen, um sie dann gegen Le Pen zu gewinnen; die erreichte bestürzende 34 Prozent. Die Bereitschaft von Menschen, mit ihren Wählerstimmen verrückte Dinge zu treiben, ist seit der Verkündung des allgemeinen Wahlrechtes sehr hoch, die Einführung der allgemeinen Vernünftigkeit erfolgte offensichtlich asynchron. Das ist, möchte ich meinen, eine geschlechtsneutrale Beobachtung.

In dem oben erwähnten Brief lauten die zentralen Formulierungen, auf den Punkt gebracht: Hiermit trete ich aus der Wirklichkeit aus! Zugleich mache ich anderen das Angebot, mit mir aus der Wirklichkeit auszutreten. Auch angesichts der Entwicklungen durch die Pandemie stellt sich die Frage: Wächst das Bedürfnis nach dem Austritt aus der Wirklichkeit?

Wenn man das wissen könnte! Sie rühren jedenfalls an dem sensitiven Punkt. Man könnte Heraklit zitieren, der bemerkte, dass schlafend jeder Mensch in seiner eigenen Welt sei. Es komme aber darauf an, der gemeinsamen Tageswirklichkeit zu folgen. Seit jeher werden viele Communities über Trauminhalte oder Fest- und Rausch-Zusammenhänge gestiftet. Es gibt wohl so etwas wie einen Sozialismus der Nacht. Wir Europäer haben zur Stunde Glück, dass die Wirklichkeitskonstruktion der Mehrheiten im Moment zumeist ohne allzu deutliche neurotische und psychotische Komponenten geschieht, zumindest was die westeuropäische und skandinavische Grundsituation anbelangt.

Wie das?

Nun ja, das Verlangen nach Wahnsinn scheint bis auf Weiteres noch bei den Minderheiten zu sein, obschon es an vielen Stellen köchelt. Von den irrationalen Wellen in Frankreich haben wir gesprochen; was soll man erst von den Polen sagen, die meinen, ihr Land sei der Christus unter den Völkern und der vor einigen Jahren mit dem Flugzeug abgestürzte Präsident ein Märtyrer?

In Polen ist die Ansicht populär, ihr damaliger Präsident sei ermordet worden. Beobachter im Ausland gehen eher davon aus, er habe neunzig Leben auf dem Gewissen, weil er den Piloten der Unglücksmaschine nötigte, zum vierten Mal den Landeanflug zu versuchen, bei Sicht gegen Null.

Die Formel vom »Austritt aus der Wirklichkeit« scheint mir sehr entwicklungsfähig. Gerade kommt mir der Satz von Joseph Beuys ins Ohr: »Hiermit trete ich aus der Kunst aus.« Er wollte in etwas eintreten, was wirklicher und verbindlicher sein sollte als Kunst in ihrer betriebsförmigen Verfasstheit. Man kann es auch so sagen, dass viele Menschen sich gern im spitzen Winkel zur Wirklichkeit aufstellen, wodurch die sogenannte Wirklichkeit an ihnen abgleitet wie am Bug eines Schiffes. Man geht im Keil auf das sogenannte Reale zu, Frontalität ist in der Regel unerwünscht. Das Austreten aus der Wirklichkeit ist übrigens zu einer Industrie geworden, seit die Menschen dank der Vierzigstundenwoche sehr viel Freizeiten erlangt haben. Seit der frühen »Kritischen Theorie« ist die Diagnose ausgesprochen und hingeschrieben, dass die Unterhaltungsindustrie auf ihre Weise den Ernstfall der Industriegesellschaft inkarniert. Ablenkung gehört zu den ernstesten Dingen – schon Pascal hatte das erkannt, als er notierte, ein König ohne Unterhaltung sei ein elendes Geschöpf. Zumeist treibt man Unfugsprävention, indem man den Unfug ritualisiert.

»Die Formel vom ›Austritt aus der Wirklichkeit‹ scheint mir sehr entwicklungsfähig.« Peter Sloterdijk Foto: Anja Weber

Dazu gehört auch der heilige Unernst, mit dem häufig über Politik gesprochen wird.

Könnte es nicht sein, dass die reale Realität die Summe der Eskapismen ist? Ich habe jüngst gelesen, die Lebenserwartung bei russischen Männern sei in den letzten 20 Jahren kräftig angestiegen. Gegen das Ende der Sowjetunion lag sie so niedrig wie zuvor nur bei steinzeitlichen Bevölkerungen. Viele Menschen im Osten hatten nicht den Übergang vom Kapitalismus in den Sozialismus erlebt, sondern den in den Alkoholismus. Diese Tendenz gehört im Übrigen zu den Modernismen, an denen die muslimische Welt sich nicht beteiligt. Wahrscheinlich hat die Erregungs- und Gekränktheitsbereitschaft von Muslimen etwas mit ihrer Abstinenzkultur zu tun. Das wichtigste Ventil der dionysischen Kulturen steht bei ihnen nicht offen. Dann nimmt auch die Religion leichter einen rauschhaften endomorphinistischen Zug an.

Könnte der Evangelikalismus US-amerikanischer Prägung zu einem Rauschdefizit führen, der sich dann in die Exaltiertheit der Wirklichkeitsdeutung übersetzt und in fanatische Gemeinschaftsbildung im Sinn einer Trump-Gefolgschaft übergeht?

Man darf einen Zusammenhang vermuten. Dafür spricht die Tatsache, dass die evangelikalen Rituale sich als außerordentlich exportgeeignet erweisen. In Lateinamerika, wo die katholische Kirche das religiöse Feld jahrhundertelang nahezu monopolisiert hatte, hat man den protestantischen Sekten aus dem Norden Tür und Tor geöffnet. Die Triade aus Jubel, Arbeit und Struktur war bei den Ärmeren erfolgreich implantierbar. Sie gibt eine Art von Halt, wie er in der Szene des herkömmlichen katholischen Pauperismus nicht zu finden war. Über Phänomene dieser Tendenz wird man im Lauf des 21. Jahrhunderts noch einiges hören, denn die Sekten wachsen schnell. Es gehört ja, wie Canetti in Masse und Macht gezeigt hat, zum Wesen der Sekte, dass sie expandieren muss. Die Sektenmasse erhält sich, indem sie immer mehr vom Außen in sich hineinzieht. Ihre Hymne heißt: Wir werden immer zahlreicher.

Genau so endet diese E-Mail, die wir am Anfang zitiert haben. »Wir sind viele und wir werden mehr.« Verbunden mit einer Einladung an uns, hinzuzukommen.

Lieber Herr Welzer, Sie gehören ja, soviel ich weiß, zu den Mitgründern eines grünen Kanons in der Bundesrepublik. Sie werden sich daran erinnern, dass die frühe Ökobewegung in Deutschland mit dem Katastrophenmodell von Carl Amery sozialisiert worden war. Man fing gleich mit der Naherwartung der Katastrophe an. Amerys Standardbeispiel war Bierhefe in der Petrischale – die vermehrt sich rasend, unbelehrbar, dann bricht die Expansion von einem Augenblick zum nächsten zusammen. Gegenwärtig haben wir für die globale Zivilisation ein etwas elastischeres Zeitmodell entwickelt, das uns erklärt, warum uns noch zehn Jahre bleiben, bis dahin muss das Extra-CO2 eliminiert sein.

»Das Verlangen nach Wahnsinn scheint einstweilen noch bei den Minderheiten zu sein.« Blick ins Sloterdijks Arbeitszimmer Foto: Anja Weber

Ja, zehn oder fünfzehn, so etwa.

Die Grünen haben sich demnach zu abgemilderten Katastrophisten gewandelt. Man muss Carl Friedrich von Weizsäcker nachträglich recht geben, wenn er sagte, die Angst solle als die enge Verbündete der Vernunft begriffen werden, obwohl sie sonst oft eine Verführerin zur Irrationalität ist. Im Blick auf die kommenden Katastrophen kann die Angst auch als Schubkraft für ein vernünftiges Handeln nützlich werden. Etwas hiervon ist beim Greta-Effekt im Spiel. Das Mädchen mag ein wenig seltsam wirken, doch sollte man sie nicht pathologisieren, sie hat ja wirklich etwas gesehen.

Aus Thunberg spricht eine fast schon absurd durchrationalisierte, erwachsene Art von Vernunft.

Dennoch sagt sie zu den Älteren: Ich möchte, dass ihr in Panik geratet. Auch sie arbeitet mit einem Modell von Zeitknappheit, ähnlich wie Weizsäcker, wonach zwischen einem starken Affekt und einer wichtigen Einsicht eine Verknüpfung hergestellt werden muss. Nur so ließen sich Wandlungen begünstigen, die angesichts der allgemeinen Frivolität nicht durchsetzbar wären. Das Betriebsklima moderner Konsumgesellschaften ist Leichtsinn, und die Erzeugung von Leichtsinn bildet die Hauptaufgabe der medialen Wirklichkeitskonstruktionen. Die Schwierigkeit liegt also darin, den Leichtsinn zu durchbrechen und Ernst einzuführen, wo er systemisch nicht erwünscht ist, vor allem beim Konsum und beim Energiehaushalt. Insofern ist das Corona-Paradigma einer Regierung anhand von Ausnahmeverordnungen sehr bedeutsam, weil jetzt die Politik ihre letzte Ausrede aus der Hand gegeben hat, nämlich: dass sie nicht kann, wie sie will. Wir haben gesehen, was sie kann, wenn sie will. Wo hinreichend starke politische Willensspannungen sind, da lässt sich sehr viel machen.

Corona als die Gegenkraft zum Leichtsinn! Das muss man auf sich wirken lassen. Wenn wir in einer Kultur leben, die permanent den Leichtsinn fördert, bildet die Pandemie den direkten Widerspruch hierzu. Ich bin dieser Tage in Interviews oft gefragt worden: »Warum gehen denn die Leute Skilaufen, obwohl die Zahlen so hoch sind?« Meine Antwort war: »Sie kriegen ja ihr Leben lang nichts anderes zu hören, als dass sie permanent tun sollen, wonach ihnen zumute ist.« Die Eindringtiefe der Corona-Pandemie, so scheint es, ist deswegen so groß, weil sie kein Spaß ist und mit Leichtsinn nicht zu meistern. Der Ernstfall ist uns kulturell fremd geworden.

Tatsächlich ist es der Konsumkultur gelungen, angekurbelt durch das Konsumkreditwesen, innerhalb von weniger als 100 Jahren die Frustrationstoleranz extrem abzusenken. So ist eine Kultur der instantanen Satisfaktionen entstanden. Das Verlangen nach sofortigen Gratifikationen, am besten auch kostenfrei, ist so heftig geworden, dass man die Wiedereinführung einer vernünftigen Zurückhaltung schon fast als konterrevolutionäre Überforderung wahrnimmt. Jede Wiederbelastung löst zuerst Wut und Erbitterung aus. Diese Beobachtung macht uns erst klar, was die letzten 100 Jahre bewirkt haben. Andererseits informiert sie uns über die Vertikalspannung, die in höheren Kulturen immer aufrechterhalten werden musste. Überall, wo es um ernste Einsätze ging, wurde mit Zusatzanstrengungen gearbeitet, mit ständigem Üben und Exerzieren, in der Armee, in den Handwerken, im Haushalt, in den Künsten. Untrainierte waren zu nichts zu gebrauchen. Dasein hieß In-Form-sein. Seneca schreibt einmal an seinen Schüler Lucilius: Ein einziges Winterlager ließ Hannibals Armee erschlaffen. Damit wollte er sagen: Wenn du auch nur ein paar Monate in deiner Anspannung nachlässt, bist du aus dem Spiel.

Haben Sie die liberale Demokratie aufgegeben?

Wer sind wir, um die liberale Demokratie aufzugeben?

Was also tun?

Ich habe eine Lektüre in den Knochen, die bei mir ziemlich gründlich nachwirkt, Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. In seinem neuen Buch, dessen Titel auf Hayeks Weg zur Knechtschaft anspielt, beschreibt er zwei Grundhaltungen, die mit dem Leben in Demokratien schlechterdings nicht kompatibel sind. Die erste nennt er die »Politik der Ewigkeit«. Sie unterstützt die Illusion, wonach in der Welt »da oben« immer das Gleiche geschieht, die ewigen Stereotypen wiederholen sich, nur stets von Neuem auf andere Individuen verteilt. Will sagen: Die Welt ist alles, worin immer nur dasselbe geschieht – wie in den Wagner-Opern. Snyder erklärt sehr suggestiv, warum diese Haltung mit den politischen Bedürfnissen von Diktaturen bestens korrespondiert. Die setzen darauf, dass die Menschen resignieren und die da oben machen lassen. Wenn wirklich alles immerfort auf dasselbe hinausläuft, sollte man am besten früh lernen, sich mit dem Gegebenen abzufinden. Wozu hat man denn die Russisch-Orthodoxe Kirche auferstehen lassen?

Was ist die zweite Grundhaltung?

Auf der anderen Seite führt Snyder weiter aus, bedroht uns die Illusion des positiven Fatalismus, wonach es so etwas wie eine Verbesserungs- oder Fortschrittsautomatik gebe. Dieser Irrtum sei politisch ebenso gefährlich, weil er den Menschen ihre Anstrengungsbereitschaft ausredet. Zwischen den beiden Haltungen eingeklemmt ist der kleine vitale demokratische Mittelgrund, wo Leute sich anstrengen für die freiheitliche Lebensform in ihrer ganzen Unwahrscheinlichkeit, die nach links wie nach rechts täglich gefährdet ist. Ihr schadet der unbegründete Fortschrittsfatalismus ebenso wie die ahistorische und privatistische Resignation. An einem Mann wie Nawalny kann man, wie an den weißrussischen Vorkämpferinnen, erkennen, dass auch die Demokratie ihre Helden hat. Politisch Erwachsene sollten trotz allem die Stellung halten. Wenn man sich klar macht, wie fragil die Lebensformen der Freiheit sind, darf man keinen Meter zurückweichen.

Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER

Fotos: ANJA WEBER

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