berlin viral: Ein Lockdown-Sampler, ganz ohne das C-Wort, mit Wut, Trotz, Melancholie
Coronasongs sind zwar ein vergleichsweise junges Genre, aber gut ein Jahr hat genügt, um dessen Ruf gehörig zu ruinieren. Irgendwas mit Akustikgitarre und im dazugehörigen Videoclip wahlweise Impressionen menschenleerer Plätze oder von sich selbst im Lockdownmodus-Bademantel auf der Couch: Wer erträgt noch so etwas?
Und wer das wahrscheinlich schlimmste Beispiel aus einer Unterabteilung des Genres, nämlich das der willentlich lustigen Coronasongs, durchlitten hat, kann sich wenigstens sicher sein, dass es musikalisch nicht mehr grausamer werden kann. Wer Dieter Hallervordens Auseinandersetzung mit der Pandemie in seinem Coronasong hört, fragt sich sogar ernsthaft, was schrecklicher ist: dieses Lied oder ein Aufenthalt auf der Intensivstation.
Es ist also ein durchaus riskantes Unterfangen, nun eine ganze Compilation im Zeichen von Corona herauszubringen. Der Musikproduzent und Labelbetreiber Johannes Tibursky hat es trotzdem gewagt, die pandemische Zeit in Berlin gleich in 18 Songs unterschiedlicher Musiker und Musikerinnen aus der Hauptstadt beschreiben zu lassen. „Ghost City Berlin – Lockdown Sampler“ nennt er sein auf Kitchen Records erschienenes Projekt, und was man gleich einmal dankbar festhalten muss: In keinem der Stücke fällt auch nur einmal das C-Wort.
Überhaupt umkreist die Compilation ihr Thema weniger konkret, sondern durch die Heraufbeschwörung einer bestimmten Stimmung. Da gibt es schon Songtitel, die als Metaphern für Zustandsbeschreibungen im Lockdownmodus taugen, etwa “Cold City“ von Kitty Solaris, “No no no“ von Aniqo oder gar “Zerbrechlichkeit“ von Tiefe Wasser Berlin, aber klar benennt keines der Stücke den Pandemiehorror.
Eher assoziativ wird die ganze Palette unterschiedlicher Corona-Gefühlslagen aufgezeigt: Wut (Bass Sick Shit mit “Normophatic Society“), Trotz (Herbst in Peking mit “Genau jetzt“), Melancholie (Tiburskys “Car Crash“). Die musikalischen Mittel der Wahl sind dabei mal treibender Indierock, mal eher zurückgenommenere Singer-Songwriterkunst (glücklicherweise fast nie mit Akustikgitarre). In Prussias Nummer “Carnival is over“ kommen sogar Breakbeats zum Einsatz, zu denen man fast zur Stärkung der eigenen Resilienz ein wenig tanzen möchte. Im Gesamtbild erscheint die beschriebene “Ghost City“ Berlin überzogen von einem düster dunklen Schleier.
Am Beginn der Planung des Samplers standen Gespräche mit den Musikerinnen Kitty Solaris und Bobo von Bobo in White Wooden Houses, erklärt Johannes Tibursky per Email. Von diesen bekam er dann während der Lockdowns entstandene Songs. Und dann machte er sich auf die Suche nach weiteren, zur sich langsam herauschälenden Idee passenden Stücken. Wobei nicht entscheidend war, dass die während der Pandemie eingespielt wurden, sondern einfach nur der angedachten Atmosphäre entsprechen sollten. Die Hälfte der Stücke auf dem Sampler sind somit neu, so Tibursky, die andere Hälfte älter und teilweise schon woanders veröffentlicht.
Es gehe ihm auch darum, „ein Zeichen für die Kraft des Miteinanders und für den optimistischen Blick nach vorne“ zu setzen sowie „Musikkultur und Kunst über die aktuelle Krise hinweg zu fördern und für uns alle zu bewahren“.
Das mag jetzt vielleicht ein wenig sehr pathetisch klingen. Aber da man ja gerade das Gefühl hat, um einen herum bricht alles auseinander und man wird von der dritten Welle förmlich verschluckt, kann man schon mal mit solchen Worten etwas Mut machen.
In ein paar Jahren wird man dann hoffentlich den Sampler aus der wirklich hintersten Ecke seines CD-Regals ziehen und sich denken: „Au mann, so haben wir uns also damals gefühlt.“
Andreas Hartmann
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