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Archiv-Artikel

„Traurige Musik löst Freude aus“

FORSCHUNG Die Welt wird schneller, die Popmusik langsamer. Ein Berliner Forscher hat den Trend hin zur Melancholie entdeckt

Christian von Scheve

■ 38, ist Juniorprofessor an der Freien Universität Berlin. Im Rahmen des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ hat er eine Studie über die Entwicklung der Chartmusik von 1965 bis 2009 erhoben. Die Studie ist unter dem Titel „Emotional Cues in American Popular Music: Five Decades of the Top 40“ im Mai 2012 auf Englisch erschienen.

Interview Constantin Schöttle

taz: Herr von Scheve, Sie haben eine Studie zur Entwicklung der Popmusik in den letzten fünfzig Jahren erhoben. Was kam heraus?

Christian von Scheve: Wir haben festgestellt, dass Chartmusik langsamer und, was die Tonlage angeht, trauriger geworden ist. Was genau haben Sie untersucht?

Zusammen mit Glenn Schellenberg, einem Musikpsychologen aus Toronto, habe ich 1.000 top platzierte Songs aus den amerikanischen Charts untersucht. Wir haben die Top-40-Songs eines Jahres genommen und analysiert.

Wie haben Sie die Popmusik denn genau unter die Lupe genommen?

Wir haben vor allem zwei Eigenschaften der Musik untersucht. Das war zum einen das Tempo des Songs und zum anderen die Tonart, in der das Stücke komponiert ist – nämlich Dur oder Moll, wobei Dur eher als fröhlich und Moll eher als traurig wahrgenommen wird. Dabei haben wir festgestellt, dass Chartmusik deutlich langsamer geworden ist. Auffällig sind vor allem die 90er Jahre, wo man von einem HipHop- und R’n’B-Effekt sprechen kann. Üblicherweise sind R’n’B-Songs eben langsamer als ein Rocksong. Was die Tonart angeht, hat sich die Anzahl der in Moll komponierten Songs im Vergleich zu den 60ern nahezu verdoppelt.

Fast doppelt so viele Songs in Moll? Sind die Menschen trauriger geworden?

Das kann man so nicht sagen. Man weiß nicht, was von beidem zuerst da war. Die traurige Musik oder die traurigen Menschen. Interessant an diesem Zusammenhang ist, dass es heute eben auch schnelle Chart-Hits in Moll gibt. Zum Beispiel von Ricky Martin: „Living la vida loca“ ist ein Song, der mit 178 Beats in der Minute ein schneller Song in Moll ist. Außerdem ist ein Mensch, der traurige Moll-Stücke hört, nicht immer gleich automatisch selbst in trauriger Stimmung. Mitunter löst traurige Musik ja auch freudige Gefühle aus. Zum Beispiel sehen wir uns ja auch mit Genuss eine Tragödie an oder hören uns mit Genuss ein gesetzteres Musikstück an.

Melancholische Klänge bedeuten also nicht immer gleich düstere Depression?

Nein, Melancholie oder Traurigkeit waren Emotionen, die in früheren Epochen sehr geschätzt wurden. Heute herrscht eher das gesellschaftliche Diktat, dass wir alle fröhlich und gut gelaunt sein sollen, da ist Melancholie eher verpönt. Geschichtlich betrachtet ist das allerdings nicht immer so gewesen.

Unsere moderne Welt scheint immer rasanter zu werden, das Leben in einer Großstadt wie Berlin ist oftmals hektisch. Wie passt das zur langsamer werdenden Musik?

Diesbezüglich geht unsere Interpretation in die Richtung, das wir auf die Hektik des Alltags eben auch durch das Hören ruhigerer Musik reagieren. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von einer beschleunigten Gesellschaft, da kann es gut sein, dass sich die Menschen zum Ausgleich verstärkt einer verlangsamten Musik zuwenden. Gleichzeitig könnte das Diktat, immer gut gelaunt zu sein, vielleicht dazu führen, dass wir uns dann verstärkt etwas traurig oder ambivalent klingender Musik zuwenden. Das sind zwar plausible Interpretationen, die aber unsere Studie nicht belegen kann.

Wie steht es denn um den Berliner Techno? Ist Techno einfach nur schnelle Gute-Laune-Musik?

Ja, Techno ist vor allem schnell. Am Techno lässt sich die Entwicklung der Musik auch noch mal gut erklären. Beispielsweise „Barbie Girl“ von Aqua ist ein klassischer Bum-Bum-Ramba-Zamba-Stimmungssong wie auf der Kirmes. Diese Art Musik ist eher auf Party und gute Laune getrimmt. Vergleicht man damit aber Songs von Berliner Electro Labels wie von Basic Channel oder BPitch, dann sind die Lieder zwar auch schnell, aber sie haben nicht diesen zwingenden Gute-Laune-Charakter, der manchmal fast schon etwas infantil klingt. Es wird deutlich, dass der Techno zwar weiterhin schnell ist, aber von der Tonlage her oft auch weniger naiv, dafür anspruchsvoller und eher sophisticated.

Darüber hinaus ergab Ihre Studie, dass der Anteil weiblicher Stimmen in den Charts zugenommen hat.

Ja, der Aspekt Gender wurde in der Studie auch gemessen. Es kam raus, dass die Anzahl der weiblichen Stimmen in den Chart-Liedern zugenommen hat. Ich nehme an, das hat gesellschaftliche Gründe und spiegelt mitunter die Entwicklung der Frau auch in anderen kulturellen Bereichen wider.

Haben sich die großen weiblichen Balladensängerinnen wie Beyoncé eher auf Moll spezialisiert?

Nein, da haben wir zumindest auf Anhieb keine Systematik erkannt. Man kann nicht etwa sagen, dass sich die weiblichen Sängerinnen wie Madonna, Lady Gaga oder Beyoncé ganz auf Dur- oder Moll-Lieder spezialisiert hätten.

Können Sie nach der Studie eigentlich noch entspannt Radio hören? Oder zücken Sie gleich immer den Block, um ihre Analyse festzuhalten?

Ich kann Musik immer noch genießen. Morgens höre ich gerne Berliner Radio. Am liebsten höre ich Radio eins. Ich komme eigentlich aus Hamburg, und wenn ich zwischen den Städten mit dem Auto hin und her fahre, fällt mir immer wieder der grässliche Wechsel der Musikqualität auf.

Wo ist die Musik besser Ihrer Meinung nach besser?

Ich für meinen Teil finde die Musik in Berlin mit großem Abstand besser.