piwik no script img

Archiv-Artikel

berliner szenen Schreien

Ins Blaue hinein

Eigentlich ist es ein schöner Tag. Ich wähne mich glücklich. Wie ein Klapskopf grinsend radle ich durch die Straßen. Heißa – wie flott das geht, beflügelt von der Schönheit des Tages und den körpereigenen Opiaten, Sendboten des Glücks, die in meinem Hirn wie göttliche E-Mails mit sämtlichen Schaltstellen der Lustempfindung kommunizieren.

Natürlich bin ich privilegiert, denn nicht alle sind glücklich – wer wüsste das besser als ich? Man muss wenigstens einmal das bittere Aroma des Unglücks gekostet haben, um das Glück zu genießen – der Milchreis mundet süß nach einem kleinen Löffel Hundekot. Ohne Täler keine Berge, und der hagere Mann an der Bushaltestelle muss von einem extrem hohen Berg gekommen sein: Als ich vorbeifahre, heult er in den Himmel, sein Gesicht ist verzerrt, sein ganzes Leid schreit er heraus: „Schlag zu“, brüllt er anklagend ins Nichts, ins Blaue, in die Wärme des für ihn wertlosen Sommertags hinein, „los, schlag doch zu! Ich spür doch sowieso nichts mehr!“ Die Augen quellen ihm schier aus den Höhlen – er muss unglaublich verzweifelt sein.

Ich schmunzle verdutzt: Jetzt fände ich es ja urkomisch, wenn plötzlich eine Faust aus dem Himmel fahren und ihm eine donnern würde – das soll’s ja geben, „schlagende Wetter“ und so. Dann würde er sich aber ganz schön wundern, könnte ich mir denken, und es sich beim nächsten Mal gründlicher überlegen, bevor er solche merkwürdigen Wünsche äußert. Auf der anderen Seite leidet hier ein Mensch ganz offensichtlich große Not – ist das wirklich lustig? Nein. Mache ich mich drüber lustig? Ja. Es ist leider wie so oft: Die Schönheit meines Leibes vermag einmal mehr kaum über die Verderbtheit meiner Seele hinwegzutäuschen. ULI HANNEMANN