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Kapitel13

Unsere Kollegin hat einen Roman geschrieben. Denn Fiktion kann Wirklichkeit sein. Und Wirklichkeit Fiktion. Hier ein Kapitel aus ihrem soeben erschienenen Buch, das an Ostern spielt

Von Waltraud Schwab

Immer wollte ich neben der journalistischen Arbeit auch finktional schreiben. Nur habe ich alles verworfen. Denn die Wirklichkeit ist größer als das, was ich mir ausdenken kann. Wie die Leute, denen ich als Journalistin begegne, ihre Worte wählen, was sie sagen, was sie erlebt haben, ist einzigartig, authentisch und originell. Vor allem aber unerfindbar.

Dann interviewte ich die Schriftstellerin Silvia Bovenschen kurz vor ihrem Tod, und sie sagte etwas, das den Knoten durchschlug. Man müsse, meinte sie, sich die Fiktion eben anverwandeln. Ich habe das so verstanden, als müsse die Fiktion zur eigenen Wirklichkeit werden, wie es bei Leuten geschieht, die Falschaussagen machen und beginnen, das, was sie da behaupten, für die Wahrheit zu halten. Erst da fing ich an, an die erfundenen Figuren zu glauben.

Im Roman flieht Maria F., eine Frau mittleren Alters, vor ihren Erinnerungen an ein schreckliches Erlebnis und denkt sich stattdessen ins Leben eines grünäugigen Mädchens hinein, das sie von ihrem Fenster aus beobachtet. Durch die Auseinandersetzung mit der Grünäugigen, deren Namen sie nicht kennt, sie meinte gehört zu haben, dass jemand sie „Kiss“ nannte, kann sie sich letztlich ihrer eigenen Vergangenheit stellen.

Der Romanauszug spielt an einem Ostertag, als Maria F. noch ein Kind war. Es ist einer der raren magischen Momente in ihrem Leben.

***

„Wir wissen Dinge aus der Zukunft“, sagen Zukunftsforscher. „Wir wissen, dass wir sterben werden.“ Maria F. weiß mehr. Da ist dieser Schatten, der an ihr klebt und den sie nicht los­wird. Morgens, wenn sie aus dem Bett steigt, sich anzieht, kommt nicht zuerst das Hemd, darunter ist schon der Schatten, geschmeidig geworden mit den Jahren, nicht kratzend, und würde sie ihn in Farben beschreiben, er wäre nicht dunkel, nicht schwarz, beileibe nicht, dieser Schatten wäre pastellfarben. Hätte der Journalist sie gefragt, sie hätte es ein rauchiges Hellblau genannt, die Farbe ihres Sofas, ihrer Augen, die Farbe von Nebel am Meer. Und dann ist da noch etwas, das sie innerlich wund macht. Jedes Mal, wenn sie schluckt, spürt sie es. Es ist die Sehnsucht nach ihrem Kind: Nie, nie, nicht eine Zukunftssekunde lang wird sie frei davon sein.

Aber sicher, nun müsste die Vergangenheit erzählt werden, damit diese Frau aus dem Nichts, die am Fenster steht, die Bank im Blick (wo bleibt die Grünäugige, seit Tagen ist sie nicht mehr aufgetaucht), den Boden unter den Füßen wieder spürt. (Maria war sogar runtergegangen, hatte Gülüstan und die anderen Mädchen gefragt, ob Kiss nicht mehr komme. „Hä, was wollen Sie?“, hatten die zurückgefragt und sie angeschaut, als wäre sie ein gefährlicher Hund. Sie hätte sich das Herzklopfen sparen können.)

Aber im Moment geht es nicht um Andere, es geht um sie. Und weil es in jedem Leben das Gegenüber, das Beinahe, das Zuallererst gibt, hat sie, diese Maria F., eine Geschichte. Sie ist nicht aus dem Nichts. Da war ein Erzeuger, auf jeden Fall, und eine Mutter oder jemand anderes, der sie an der Hand hielt, diese Tante vielleicht, Alberta, es gibt ein Foto, auf dem sie, drei oder vier Jahre alt, in deren offene Arme läuft. Sie liebt dieses Foto, obwohl nur sie darin etwas erkennt.

Und ein Zimmer wird es gegeben haben, in dem Maria F. groß wurde, eine Straße mit Freundinnen, eine Bank in der Schule. Wenn sie nicht gerade an den Nägeln kaute, kratzte sie über die Holzkante des Tisches. Mehr Geschichten als nur diese eine mit dem Vater am Fluss muss es geben, Jahreszeiten, einen Uhu in der Baumkrone am Park, seine roten Augen leuchteten nachts und sie fürchtete sich nicht. Der Vogel schien verwirrt, als verabschiede er sich aus dem Dorf. Ah, ein Dorf also, stimmt, das wurde bereits mehrfach erwähnt. Und Herbst, dann Winter, Frühling, Sommer. Es strengt sie an, sich darauf zu konzentrieren. Kindheit? Sie spürt den Gummi der Kniestrümpfe, die ihr ins Bein schneiden.

Und ja, obgleich das Ja eine Gewissheit vorgibt, deren sie sich nicht sicher sein kann, ist, ja, diese Alberta, diese Tante, etwas wie ihr inneres Ich. Sie starb mit dreiunddreißig, da war Maria sechs Jahre alt. Lange glaubte sie, dass sie, da Alberta in ihr lebte, nicht älter werden könne als diese. Dreiunddreißig, Jesusalter, Maria F. wuchs mit der Kirche auf, der katholischen, und wer die Geschichten glaubt, weiß, dass dreiunddreißig eine Lebenshürde ist, die zum Stolpern bringen kann. (Sie kam ja dann auch ins Stolpern, aber anders als gedacht.)

Für Alberta, die gar nicht so gläubig war, die gerne lachte, die, kaum dass sie einen Raum betrat, den Menschen, die im Zimmer waren, ein Lächeln aufs Gesicht zauberte (so zumindest erzählen es ihre Schwestern, eine davon Maria F.s Mutter, die immer Migräne hatte), war die Zahl das Ende.

Das einzige Erinnerungsstück an die Tante, das es noch eine Zeit lang gab: das verstimmte Klavier. Sie, Alberta, hat es ihr Eigen genannt. Niemand im Haus konnte spielen. Auch Alberta nicht, wiewohl sie es versuchte und einige Volkslieder darauf hervorbrachte, die reichten, um Freude zu verbreiten. Wer fragte, wie das Klavier ins Haus gekommen war, bekam unterschiedliche Antworten. Es soll noch im Krieg gewesen sein. Klavier gegen Kartoffeln oder Rüben, aber genau wusste es niemand mehr. Das Instrument hatte in all den Jahren in der Scheune gestanden, bevor es der Onkel und ein Nachbar ins Wohnzimmer brachten. Klavierstimmer hatten es leidlich hingekriegt – zum Klimpern reichte es.

Alberta ist wichtig für Maria. Sie fühlte sich von ihr geliebt. Deshalb gibt es noch diese eine Begebenheit, eine, deren Zauber sie in sich bewahrt, deren Magie an ihr hängt als Geschmack, den sie bis heute sucht. Es ist eine Erinnerung, die ihr wertvoll ist in ihrer unbegreiflichen Umfasstheit, und sie erzählt sie jetzt bald selbst. Und schreibt sie auf.

Das ist neu, dass sie etwas von sich so direkt, so offen, so frei und ohne Angst vor Kontrollverlust preisgibt, aber die Bedeutsamkeit des Geschehens, das sie in sich trägt, macht es möglich, dass sie von dieser allerletzten Begegnung mit Alberta, ihrer geliebten Tante, berichtet. Sie tut es mit stockender Stimme und einem Blick, der nach innen gerichtet ist, als erzähle sie es sich selbst.

„Es war an einem Ostersonntag. Alberta war schon Monate krank“, beginnt sie. „Sie hatte Krebs, es ging ihr nicht gut.“ Dass es Krebs war, wisse sie aus den Berichten anderer. „Für mich war dieses Kranksein auf eine bedrohliche Weise geheimnisvoll wie etwas, das einen durch die Luft gleiten lässt.“ Alberta sei im Frühsommer gestorben, gepflegt wurde sie im Haus ihrer Eltern, sie lag im Bett der Großmutter im ersten Stock.

Jeden Ostersonntag durften, berichtet sie, alle Enkel und Enkelinnen (und es sollen viele gewesen sein, denn Alberta hatte sechs Schwestern, alle hatten Kinder) zu den Großeltern, um Ostereier zu suchen. „Glaub mir, für uns tat man so, als sei auch in jenem Jahr alles normal, als läge nicht über dem Zimmer, in dem wir aßen und tobten, jemand im Sterben“, sagt sie. Auch im Hof spielten die Kinder, schrien durcheinander, suchten Ostereier, mindestens sechs Dutzend versteckten die Groß­eltern und Tanten angeblich. Jedes Jahr sollen Eier nicht gefunden worden sein. Manchmal fielen sie erst Monate später jemandem in die Hände.

„Das Fenster zum Zimmer, wo Alberta lag, stand offen. Sie hörte uns, und was für sie wie Gegenwart gewesen sein muss, war doch schon Vergangenheit.“ So zumindest stellt sich Maria F. das heute vor. „Ich spürte ihre Anwesenheit. Ich suchte Ostereier und hab doch gleichzeitig nur so getan, als suchte ich sie. Niemand erwähnte Alberta, die ich liebte, von der ich mich geliebt fühlte und nun getrennt war in dieser geheimnisvoll bedrohlichen Nähe.“

Irgendwann sei sie die Treppe hinauf in den ersten Stock. Ganz leise sei sie gegangen, niemand sollte wissen, dass sie zu ihr wollte. „Ich weiß noch, wie ich versuchte, die Stufen hochzusteigen, ohne sie zu berühren. Ich bin über den Flur geschlichen, doch die Dielen knarrten, es war ein altes Haus.“ Dass die Unsichtbarkeit so viele Hindernisse bot, habe ihr den Mut nicht genommen. „Als ich vor der Tür stand, drückte ich die Klinke ganz langsam, weil ich dachte, das Langsame mache mich leise, und wenn ich leise bin, sieht mich niemand.“ Sie wusste, dass der Türgriff zum Großelternzimmer quietschte, aber sie dachte immer weiter, dass unsichtbar auch unhörbar sei.

„Als ich die Tür einen Spalt öffnete und ins Zimmer schaute, erblickten mich Alberta und ihr Mann, der neben ihr saß. Ich fühlte mich ertappt.“ Jäh ist Maria F., die da noch Kind war, keine sechs Jahre alt, gesehen worden.

Ich suchte Ostereier und hab doch gleichzeitig nur so getan, als suchte ich sie. Niemand erwähnte Alberta

„Komm“, sagte der Onkel, als sie durch den Spalt ins Zimmer spähte. „Komm.“ Verschüchtert, aber mutig, weil ein Zurück jetzt nicht mehr ging und sie ja auch nicht böse auf sie schienen, weil sie das Nichtsprechen und die Nichtanwesenheit ignoriert hatte, sei sie zu Alberta ans Bett gegangen und habe von allen Fragen, die einem Kind gegenwärtig sind, die eine gestellt: warum sie krank sei.

An eine Antwort könne sie sich nicht erinnern, weil es auf so eine Frage keine Antwort gibt. Jedoch nahm Alberta sie in den Arm, hielt sie fest, aber es sei ein schwaches Festhalten gewesen, weil sie schwach war, „und ich fühlte mich unwohl.“ Die geliebte Tante hatte ihr die Hand auf den Kopf gelegt, aber mehr abgelegt als aufgelegt, „die Hand fühlte sich schwer an“, erzählt Maria F. Da sagte der Mann, dass sie sich zu ihnen setzen solle. „Ich kletterte auf den Stuhl, dem mit dem blauen Samtpolster, und meine Beine baumelten in der Luft.“

Das Kind wusste nicht, was es sagen sollte, jetzt waren in dem Zimmer alle wie verzaubert. „Da war diese Tante, von der ich mich geliebt fühlte und die nun zu schwach war, um im Bett aufzusitzen, deren Kopf nach vorne gebeugt war, so dass es schien, als könnte er aus dem Bett fallen.“ Und da war der Onkel, den sie immer gefürchtet hatte. Jetzt sei er still gewesen. „Ich saß da, ratlos, unruhig mit den Beinen baumelnd.“

„Ob ich Saft wolle, fragte die Tante.“ Sie habe genickt. „Da gaben sie mir etwas, das himmlisch schmeckte.“ Was es war, weiß sie nicht. Seither sucht sie in allen Getränken, die sie kostet, nach diesem Geschmack.

Aber was sonst noch gesprochen wurde, weiß sie nicht mehr. Die samtene Zeit in diesem Zimmer hat sich in ihr eingebrannt.

Irgendwann habe sie es auf dem Stuhl nicht mehr ausgehalten, das Geschrei ihrer Cousinen und Cousins, die andere Welt, „ich bin vom Stuhl gerutscht und sagte, dass ich gehen will, aber ich spürte schon, dass man einer Sterbenden nicht den Rücken zukehren kann. Auf Zehenspitzen ging ich rückwärts durch die Tür, als wäre ich nie da gewesen.“

Das ist neu, dass Maria F. so lange erzählt. „Ohne diese letzte Begegnung mit Alberta wäre ich längst tot“, sagt sie noch. Als reiche es, einmal als Kind von jemandem geliebt worden zu sein.

Ob es andere magische Momente in ihrem Leben gibt, fragst du? Frag dich selbst, wie viele du erlebt hast. Es sind nie viele.

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