: Musterland ist abgebrannt
Entlassungen, Kurzarbeit, Insolvenzen: In Baden-Württemberg geht es dem einstmals höchst erfolgreichen Mittelstand an den Kragen
AUS ESSLINGEN UND BAD DÜRRHEIM WOLF SCHMIDT
Gunter Ketterer steht in der Fabrikhalle und zeigt auf den RK High-Speed-Werkzeugrevolver mit sechs Spindeln, ein Herzstück der Maschinen seiner Firma. In weniger als einer Sekunde wechseln sie von einem Fräser auf den anderen. „Das ist der schnellste Werkzeugwechselkopf der Welt“, sagt Ketterer.
Doch seit einem Jahr verkaufen sich die Ketterer-Maschinen wie Eiswürfel auf Grönland. Um 90 Prozent sind die Aufträge in der Krise eingebrochen. Dabei hat Firmenchef Gunter Ketterer, 45, alles versucht. Im Februar lud er zu einer Hausausstellung ein. Wer eine Maschine kaufte, sollte ein Jahr lang erst mal nichts bezahlen – und ein Wellness-Wochenende in einem Hotel bekommen. Es nützte nichts. 1923 hatte Gunter Ketterers Großvater das Unternehmen gegründet, Anfang September 2009 wurde die Insolvenz eröffnet.
„Das war wie eine frontale Fahrt auf eine Betonwand“, sagt Ketterer im Konferenzraum der Firma in Bad Dürrheim an der Grenze zwischen Baden und Württemberg. In Regalen liegen Produkte, die mit Ketterer-Maschinen hergestellt wurden: Motorblöcke, Ventile, Pumpen, Sensoren. An der Wand hängt der Innovationspreis der Sparkasse von 1999. Ketterer ringt sich ein Lächeln ab. Nur ein Mundwinkel zeigt dabei nach oben, der andere hängt nach unten. Es ist ein Lächeln wie eine abstürzende Konjunkturkurve.
Mehr als 20 Leute wurden bei Ketterer gerade entlassen, eine Kerntruppe von 53 Mitarbeitern soll den Karren nun irgendwie aus dem Dreck ziehen. Aber wer die Firma besucht, bekommt Zweifel, ob das noch klappt. Nur hin und wieder huscht ein Mitarbeiter im blauen Kittel durch die Hallen, das Lager ist weitgehend leer, man hört kaum Geräusche. Eine seltsame Atmosphäre. „Die Großen kriegen Kredite und die Kleinen verhungern“, sagt Gunter Ketterer. „Hart, aber wahr.“
Minus 8 Prozent
Die Krise soll überstanden sein? Wer durch den Südwesten reist, bekommt einen anderen Eindruck: Das Schlimmste könnte erst noch kommen. Kein Bundesland wird so hart von der Rezession getroffen wie Baden-Württemberg. Laut Statistischem Landesamt wird die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 8 Prozent zurückgehen. Vor allem bei Autozulieferern und im Maschinenbau ist die Produktion dramatisch eingebrochen, um etwa ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr. 514.000 Beschäftigte waren im ersten Halbjahr zumindest zeitweise in Kurzarbeit. Das hat bisher noch einiges abfedern können. Doch die Frage ist: wie lange noch?
Es sind nicht nur die Großen, die in der Krise stecken, Daimler, Porsche, Bosch. Sondern vor allem die vielen kleinen und mittelständischen Betriebe, denen nach Monaten der Durststrecke nun das Geld ausgeht.
Wenn man die deutschen Weltmarktführer als Punkte auf einer Landkarte einzeichnet, sieht es ein bisschen so aus wie das Muster, das eine Schrotflinte auf einer Zielscheibe hinterlässt. In den Nordosten haben sich nur wenige Treffer verirrt. Im Südwesten kann man die einzelnen Einschläge gar nicht mehr auseinanderhalten, so viele gibt es dort.
Hinter den Punkten verbergen sich Firmen wie Eberspächer, Trumpf, Eisenmann, Putzmeister, Schuler oder Mink. Sie stellen Auspuffanlagen, Lasertechnik, Betonpumpen oder Pressanlagen her. Und manchmal auch Dinge, die so speziell sind, dass sie keiner mehr versteht. Mittelständler wie diese waren jahrelang der Motor der baden-württembergischen Industrie – und der deutschen Wirtschaft als Ganzes. Nun stottert dieser Motor gewaltig, und keiner weiß, wann er wieder richtig anspringt. Die Auftragsbücher sind leer. Aus schwarzen werden rote Zahlen. Mitarbeiter müssen gehen.
Es ist ein Gefühl, das viele Baden-Württemberger gar nicht kennen. Früher galt: Wer was schafft, der schafft’s auch nach oben. Heute sind die Leute froh, wenn sie überhaupt was zum Schaffen haben.
Kurz vor Stuttgart fließt der Neckar durch Esslingen. An einem Mittwoch im September verkaufen dort zwischen der gotischen Kirche, Fachwerkhäusern und Kastanienbäumen Marktfrauen Kürbisse und neuen Wein. Von einer Krise ist auf den ersten Blick nichts zu sehen.
Wenige Meter weiter sitzt Karl Oberfell, 62, ein freundlicher Herr mit grauen Haaren, Brille, Jackett und eng gebundener Krawatte. Er ist der Stadtkämmerer – und könnte bald zum meistgehassten Mann der Stadt werden. Seit 21 Jahren macht er seinen Job, der im reichen Esslingen vermutlich meist dankbar war. Doch das ist vorbei: Die Gewerbesteuern sind um fast 75 Prozent eingebrochen, von 60 Millionen auf 17 Millionen Euro. Daimler hat ein Werk in Esslingen, aber auch Firmen wie der Drehmaschinenhersteller Index oder der Pneumatikspezialist Festo leiden unter der Krise.
Esslinger Giftliste
Kämmerer Karl Oberfell hat eine Liste mit 86 Punkten vor sich liegen. „Konsolidierungsmöglichkeiten“ steht in einer Spalte. „Einsparungen in Euro“ in der anderen. Es ist die Esslinger Giftliste. Der Gemeinderat wird sich damit in den kommenden Wochen beschäftigen müssen.
In ruhigem Ton liest Oberfell vor, wo man kürzen könnte. Von drei Veranstaltungshallen könnte man zwei schließen. Bringt je 6 bis 8 Millionen Euro. Vier Bäder in einer Stadt mit 90.000 Einwohnern? Zwei reichen. Die Zuschüsse an die Vereine: 100.000 Euro weniger täten es auch. Gut 400.000 Euro könnte man durch höhere Kindergartengebühren reinholen. Und wer braucht eine Raumtemperatur von 20 Grad in Schulen? Bei ein paar Grad weniger könnte man 250.000 Euro sparen. Und, und, und. „Solche Einbrüche hat’s noch nie gegeben“, sagt Oberfell.
Wenn man aus seinem Fenster schaut, sieht man an einem Mittelalterturm eine Figur, die über ein Hochseil balanciert, ein Künstler hat sie dort installiert. Der Seiltänzer rudert mit den Armen. Es sieht so aus, als stürze er gleich ab.
Viele Kommunen müssen Ähnliches verkraften wie Esslingen. Der Gemeindetag rechnet mit einem Gewerbesteuerminus in Höhe von 2 Milliarden Euro in Baden-Württemberg.
Sieghard Bender, 55, kommt gerade von einem Gewerkschaftertreffen, er ist erster Bevollmächtigter der IG Metall im Landkreis Esslingen. Es ging um das Thema, das Bender seit Wochen umtreibt: Wie kann verhindert werden, dass die Firmen nun nach und nach Insolvenz anmelden, weil ihnen das Geld ausgeht? Bender hat den Überblick über rund 130 Unternehmen in seinem Bezirk. Gerade mal 10 Prozent geht es gut, sagt er beim Gespräch in einer Weinstube. 50 Prozent sollen in ihrer Existenz bedroht sein.
Bender ist ein wuchtiger Mann mit Reibeisenstimme und Unterarmen wie Popeye. Nach der Wende war er für die IG Metall nach Chemnitz gegangen. Vergleichen könne man das natürlich nicht, aber die Erfahrung von damals helfe ihm jetzt schon. Er ist sich sicher: „Nach der Wahl beginnen die Konkurse. Das Eigenkapital der Firmen schmilzt dahin wie Schnee in der Sonne.“
Die IG Metall fordert einen Regionalfonds in Höhe von 500 Millionen Euro, um die Mittelständler zu retten. Doch die Politik will davon nichts wissen. Deshalb wollen die Gewerkschafter nun radikaler werden. Radikal? Die Baden-Württemberger? Nun ja, sagt Bender, die Schwaben würden nie in ihren Firmen Gasflaschen aufstellen und mit Sprengung drohen, wie das in Frankreich passiert ist. „Aber ob sie Gasflaschen in den Banken aufstellen, das weiß ich nicht.“
Es sind Töne, die man nicht gewohnt ist in Baden-Württemberg. Nicht jammern, anpacken, hieß es dort immer. Was ist da nur los?
670 Kilometer nordöstlich, in Berlin, sitzt einer, der die baden-württembergische Industrie kennt wie kaum ein Zweiter: Heinz Dürr, 76, einstiger Arbeitgeberchef im Südwesten, Ex-AEG-Chef, Ex-Bahn-Chef und nach wie vor Aufsichtsratschef des Anlagenbauers Dürr im schwäbischen Bietigheim-Bissingen, den er von den 60er-Jahren an zum „Mittelstandsmulti“ aufgebaut hatte. Auch die Dürr AG hat es zurzeit nicht leicht, um 30 Prozent sind die Aufträge eingebrochen, bis zum Jahresende sollen 650 Stellen gestrichen werden.
„Tiefer Winter“
Heinz Dürr gilt als Optimist, doch jetzt sagt auch er: „Im Moment geht es für die Firmen nicht um große Gewinne, sondern ums Überleben. Sie müssen nun durch einen tiefen Winter.“ Und den könnten sie nur mit soliden Finanzen überstehen.
Doch irgendwann, da ist sich Dürr sicher, geht es wieder aufwärts mit dem Maschinenbau. Denn die Menschen brauchten nun mal ein Dach über dem Kopf, einen Kühlschrank, Fahrzeuge, elektrische Installationen – „und um das alles zu produzieren, braucht man Maschinen“.
Dürr zieht an seinem Zigarillo und schaut aus dem Fenster seines Büros. Von dort sieht man den Gendarmenmarkt und den Fernsehturm, seit einem Jahrzehnt wohnt Dürr in der Hauptstadt. Vielleicht ist es der direkte Vergleich, der ihn die Krise etwas nüchterner betrachten lässt. Die Arbeitslosenquote sei hier ja bekanntlich immer noch weit höher als in Baden-Württemberg, sagt Dürr trocken. 13,4 Prozent sind es im August in Berlin, 5,5 Prozent im Ländle. Die Region um Stuttgart sei eine der reichsten Deutschlands, fährt Dürr fort. „Jetzt wird’s ein bisschen weniger, das ist auch nicht so schlimm.“ Er kann der Krise sogar etwas Positives abgewinnen. Sie sei hilfreich, darüber nachzudenken, was wir wirklich brauchen. Im vergangenen Jahr hat Dürr seine Erinnerungen aufgeschrieben. Darin zitiert er den Philosophen Karl Jaspers: „Nur im Scheitern kommt der Mensch zu sich selbst.“
Nun sitzt Dürr in seinem Büro vor einem Bild des Künstlers Thomas Locher. Darauf ist ein Zitat auf Englisch zu sehen, übersetzt heißt es: „Endlich, sobald die Menschen in irgendeiner Weise füreinander arbeiten, erhält ihre Arbeit auch eine gesellschaftliche Form.“ Der Satz ist von Karl Marx. Auf dem Bild ist er mit Farbklecksen überdeckt.